Menschen & Gemeinschaft

Reportage

Auf dem Prüfstand: Am Dow-Standort Schkopau arbeiten rund 950 Beschäftigte.

Foto: Thomas Victor

„Wir haben keine Zeit“

Text Inken Hägermann und Katja Pflüger

Die energieintensiven Branchen der IGBCE haben schwer zu kämpfen mit hohen Strompreisen und Netzentgelten. Schnelle Hilfe wäre nötig. Das Ende der Ampel macht die Situation noch komplizierter. Denn eine lange Hängepartie kann sich das Land nicht leisten, sagen IGBCE-Chef Michael Vassiliadis und Betriebsräte aus betroffenen Unternehmen.

Artikel vorlesen lassen

Deutschlands Wirtschaft stottert und die Auswirkungen lassen sich längst beobachten. Kürzlich hat etwa der US-Konzern Dow angekündigt, an seinen deutschen Standorten Stade (rund 1.100 Beschäftigte), Schkopau (950), Böhlen (650) und Ahlen (110) sowie weiteren europäischen Niederlassungen die Anlagen aus dem Polyurethan-Geschäft, dem sogenannten PU-Kunststoff, zu überprüfen. Als Hintergrund gelten die schwierige wirtschaftliche und politische Lage. „Wir brauchen jetzt schnelle Entscheidungen“, sagt Dieter Macke, Gesamtbetriebsratschef der Dow-Standorte Schkopau und Böhlen. „Uns steht das Wasser bis zum Hals.“

Die Überprüfung der PU-Anlagen bei Dow soll bis Mitte 2025 abgeschlossen sein, vorher will das Unternehmen nicht über mögliche Auswirkungen spekulieren. Dennoch steht jetzt die Sorge im Raum, dass Anlagen abgeschaltet werden, Jobs gefährdet sind oder ganze Standorte wackeln. Deutschland ist für Dow (insgesamt 3.600 Beschäftigte an 13 Standorten) der drittgrößte Produktionsstandort und Absatzmarkt. Das Unternehmen ist einer der größten Stromverbraucher im Land. Unter Volllast stehen die Dow-Produktionsstandorte für rund ein Prozent des deutschen Stromverbrauchs.

Dieter Macke, Gesamt­betriebs­rats­vorsitzender der Dow-Standorte Schkopau und Böhlen, fordert schnelle Hilfe.

Foto: Thomas Victor

Massiver Energiehunger

Der Grund für diesen massiven Energiehunger ist die energieintensive Chlorelektrolyse. Chlor ist an den Standorten Schkopau und Stade ein enorm wichtiges Grundprodukt für vieles, was danach passiert. Trotz grundsätzlich höherer Kosten in Deutschland habe man lange Gewinne erwirtschaften können, so Macke. Das habe sich geändert. Seit Jahren sei etwa in Schkopau nicht mehr investiert worden auch weil es keine verlässlichen Signale aus der Politik gegeben habe, dass man die Probleme anerkenne und Maßnahmen ergreifen wolle. „Wir haben eine realistische Chance und können mit einem blauen Auge davonkommen, wenn die Politik jetzt schnell entscheidet“, glaubt er. „Dafür müssen umgehend die Strompreise und Netzentgelte runter.“ Er warnt davor, sich „aus politischer Taktiererei“ einer schnellen Lösung zu verweigern und auf Neuwahlen zu warten. „Wir haben keine Zeit bis zum nächsten Frühjahr. Das ist zu spät.“

Die IGBCE hat die schwierige Lage in ihren energieintensiven Branchen schon lange im Blick und fordert deshalb – zum wiederholten Mal – ein Soforthilfepaket, das die Strompreisbelastung für energieintensive Unternehmen verringert, zudem sollen die stark steigenden Netzentgelte gedeckelt werden (siehe Artikel). Auch der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis mahnte mit Blick auf das Ampel-Aus, dass die Probleme keinen Aufschub dulden: „Eine monatelange Hängepartie durch Wahlkampf und Regierungsbildung kann sich Deutschland bei drängenden Themen nicht leisten.“ Die IGBCE appelliere an alle demokratischen Kräfte im Bundestag, „ihrer Verantwortung für den Industriestandort gerecht zu werden und jetzt bei den Themenfeldern zu handeln, bei denen im Kern kaum Dissens herrscht“. Er fügte hinzu: „In den energieintensiven Industrien wie Chemie, Metallerzeugung, Glas oder Papier fallen Investitionsentscheidungen anhand von harten Standortfaktoren. Wenn sich an diesen Rahmenbedingungen nicht schnellstmöglich etwas ändert, drohen uns Strukturen wegzubrechen und zwar über die gesamte industrielle Wertschöpfungskette.“

Analyse von Matthias Opfinger:
Verbundstandorte unter Druck

Dow ist in Schkopau und Stade gleichzeitig Teil und Betreiber eines Industrieparks, in dem weitere Fremdfirmen – auch aus der chemischen Industrie sitzen. An integrierten Verbundstandorten sind die Betriebe entlang der Wertschöpfungskette eng miteinander verbunden, wie IGBCE-Experte Matthias Opfinger erläutert. „Abfallprodukte einer Produktion sind häufig Ausgangsstoff für einen weiteren Prozess. Dieses System funktioniert nur, solange die einzelnen Bestandteile gesund sind. Brechen einzelne Glieder aus der Kette, fehlen Produkte für die nachfolgenden Prozessschritte und der Verbund bricht auseinander.“ Das Verbundsystem in den Parks sei essenziell für die Resilienz der Wertschöpfung. „Für deren Erhalt ist die Unterstützung der Infrastrukturgesellschaften, die am Beginn der Wertschöpfung stehen, die bis zu Pharmazeutika oder Kosmetik reicht, unverzichtbar“, so Opfinger.

Träger der Transformation

Das weiß auch Christian Deppe, Betriebsratschef bei Dow in Stade. „Sobald irgendwo eine Anlage hustet, hat das Auswirkungen auf alle anderen.“ Neben den 1.100 Dow-Beschäftigten sind im Stader Industriepark rund 1.500 Menschen bei anderen Firmen beschäftigt, indirekt hängen rund 10.000 Jobs in der Region am Park. „Ein wettbewerbsfähiger Strompreis ist für unsere Wirtschaftlichkeit enorm wichtig“, erklärt Deppe. In den USA oder China seien die Kosten um den Faktor zwei oder drei geringer. „Deshalb ist es für uns zentral, dass Strompreis und Netzentgelte gedeckelt werden.“ Durch das Ampel-Aus drohe nun ein halbes Jahr Stillstand. „Auch die Opposition müsste wissen: Es geht jetzt nicht um parteipolitische Spielereien, sondern darum, dass der Standort Deutschland gerettet wird. Man sollte an die Zukunft des Landes denken und nicht an das Wahlergebnis.“

Sobald eine Anlage hustet, hat das Auswirkungen auf alle anderen.

Christian Deppe,
Betriebsratsvorsitzender bei Dow in Stade

Ähnlich äußert sich Matthias Jahn, Betriebsratsvorsitzender beim Chemieparkbetreiber Infraserv in Höchst: „Die Probleme mit den hohen Strompreisen und Netzentgelten dürfen nicht verschleppt werden. Die Politik sollte auf keinen Fall bis zu Neuwahlen warten, sondern muss vorher Lösungen anstreben.“ Die Infraserv-Gruppe hat am Standort Höchst 2.900 Beschäftigte, im Industriepark selbst sind rund neunzig Unternehmen mit etwa 22.000 Beschäftigten ansässig, darunter BASF, Sanofi, Celanese oder Clariant, aber auch viele kleine und mittlere Betriebe sowie Start-ups. Haben einzelne Firmen Probleme und fahren Anlagen zurück, hat das Folgen für Infraserv und die verbleibenden Betriebe im Industriepark. So hat BASF im Sommer angekündigt, sein Werk im Industriepark Höchst bis Ende 2025 komplett zu schließen, rund 120 BASF-Beschäftigte sind unmittelbar betroffen. Bereits im Frühjahr hatte das Chemieunternehmen Heubach für seinen Standort in Höchst (900 Beschäftigte) Insolvenz angemeldet zwar wurde ein Käufer gefunden, bislang ist aber unklar, ob der Betrieb unverändert fortgeführt wird. Mittelbar bedeutet jeder Rückzug von Firmen zum einen weniger Umsatz bei Infraserv, zum anderen höhere Infrastrukturkosten für die verbliebenen Betriebe, außerdem fallen unter Umständen wichtige Vorprodukte oder ein Abnehmer für ein eigenes Abfallprodukt am Verbundstandort weg. „Jedes Unternehmen, das geht, sorgt dafür, dass Stabilität eingebüßt wird“, so Jahn. „Wir als Verbundstandort sind ein wichtiger Brückenkopf für das Transformationsthema. Ohne Verbundlogik geht in der Chemie und im Pharmabereich gar nichts.“

Bei Pilkington am Standort Gladbeck soll der Ofen Gladbeck 1 (hier ein Archivbild) stillgelegt werden. 140 Beschäftigte fürchten um ihre Jobs.

Foto: Frank Rogner

Gesamtbetriebsratsvorsitzender Artur Mika muss einen Sozialplan verhandeln.

Foto: Kai-Uwe Knoth

Glasmarkt europaweit eingebrochen

Auch in anderen IGBCE-Branchen stehen Betriebe zunehmend unter Druck, Jobs sind in Gefahr. So will der Spezialglashersteller Pilkington in seinem Werk in Gladbeck 140 der rund 500 Stellen abbauen. Grund dafür sind laut Artur Mika, Gesamtbetriebsratsvorsitzender bei Pilkington, die hohen Herstellungskosten, die die gesamte Glasbranche derzeit belasten und die deutlich höher lägen als die Verkaufspreise. „Wir wenden im Moment mehr für Energie und Rohstoffe auf, als wir am Markt über den Glaspreis erzielen können“, sagt Mika. Außerdem sei der Glasmarkt insgesamt europaweit stark eingebrochen, weil das Baugeschäft und die Automobilindustrie schwächeln. „Deshalb werden weniger Scheiben gebraucht und eben auch weniger Scheiben produziert.“ Hinzu kämen hohe Kosten für Klimaschutzauflagen. „Unsere Konkurrenten in Europa haben diese Auflagen nicht. Wir müssen enorm viel Geld investieren, um die Grenzwerte, die jedes Jahr erhöht werden, überhaupt noch erfüllen zu können“, betont Mika.

Der Arbeitgeber wolle deshalb am Standort Gladbeck einen der zwei Öfen komplett stilllegen. „Wir sind jetzt gezwungen, einen Interessenausgleich und Sozialplan zu verhandeln. Fast jeder dritte Arbeitsplatz ist betroffen. Sozialverträglich und gerecht ist das nicht.“ Die Zukunft des Standortes stehe in den Sternen.

Seine Forderung in Richtung Politik lautet deshalb: „Der Staat muss nun schleunigst für vernünftige Energiepreise für die Industrie sorgen, die nötige Grundinfrastruktur – zum Beispiel für Wasserstoff bereitstellen, Lieferketten stärken und den Unternehmen Planungssicherheit geben, um Anreize für Investitionen zu schaffen.“ Von der neuen Bundesregierung, egal, wie diese aussehen wird, erwartet Mika deshalb, dass sie alles dafür tun wird, um den Industriestandort Deutschland zu erhalten. „Wir sind ein Industrieland, und zwar eines der besten der Welt. Wir haben super Mitarbeiter, wir haben super Technologien die sollten wir ausschöpfen und fördern. Wir als IGBCE sollten den Druck auf die Politik erhöhen, um gemeinschaftlich für unsere Zukunft zu kämpfen.“