Mit Rückendeckung in den Wind stellen
Die Ereignisse überschlugen sich beim Kunststoffhersteller Ritter im Jahr 2021. Die Produktion war explodiert, das Familienunternehmen wurde an einen Konzern verkauft – und drei Mitarbeitende gründeten einen Betriebsrat. Mittendrin: Sabrina Schulze, heute Betriebsratsvorsitzende.
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Ihre raue, tiefe und leise Stimme verleiht Sabrina Schulze eine natürliche Autorität. Anlegen will man sich nicht mit ihr. Die Pause mit ihr verbringen umso mehr. Eine exzellente Wirkung für eine, die Zustimmung braucht und Widerstand nicht nur aushalten, sondern auflösen muss. Widerstand, den erfuhr Sabrina von vielen, auch unerwarteten Seiten, als sie sich mit einem kleinen Team entschied, den ersten Betriebsrat in einem über fünfzig Jahre alten Unternehmen aufzubauen. Bei dem 1965 von Franz-Peter Ritter gegründeten und von dessen Söhnen geführten Kunststoffproduzenten im Landkreis Augsburg war sie seit einem Dreivierteljahr angestellt.
Eines Morgens stand ein Team der IGBCE aus ehrenamtlichen Bezirksvorstandsmitgliedern sowie einer Gewerkschaftssekretärin und einem Gewerkschaftssekretär des Bezirks Augsburgs vor den Toren des Geländes und verteilte Flyer, um auf die Gewerkschaft aufmerksam zu machen. Aufmerksam wurde zuallererst die Geschäftsführung. „Sie hat uns harsch verjagt, fast mit dem SUV überrollt“, erinnert sich Gewerkschaftssekretär Marco Ströer. „Familie Ritter war gegen Mitbestimmung“, berichtet Sabrina. Man sei ansprechbar und fände eine persönliche Lösung, so die Haltung von oben. Damals gab es unter den fast 500 Mitarbeitenden nur etwa zwanzig Gewerkschaftsmitglieder.
Zur gleichen Zeit aber rumorte es auf den Fluren, ein Unternehmensverkauf stehe an. Das sorgte für Unruhe in der Belegschaft. Der Moment war gut, um über Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerrechte zu sprechen. Ein kleiner Kreis um Sabrina erkannte: Wir brauchen einen Betriebsrat. Und zwar schnell. Marco hatte, bevor er bei der IGBCE anfing, selbst einen Betriebsrat gegründet und beriet sie von Beginn an ehrlich: „Ohne persönliches Engagement geht es nicht. Die IGBCE initiiert die Gründung und bietet rechtlichen Hintergrund. Sie ist euch verlässliche Partnerin, kennt sich aus. Aber ihr stellt euch in den Wind, und ihr kriegt es ab.“ Marco erhält in seinem Augsburger Büro viele Anfragen zur Gründung eines Betriebsrats. Jedoch verpufften sie oft wieder aus Angst vor Nachteilen und Konflikten mit dem Arbeitgeber. Trotz Unterstützung durch die IGBCE.
Ein Morgen mit Sabrina Schulze
Ein typischer Fehler zum Beispiel sei, zu früh zu viel Zustimmung zu suchen. Oder gar den Arbeitgeber um Erlaubnis zu bitten. Es irrten einschüchternde, falsche Narrative durch die Belegschaft. Zum Beispiel: Wer einen Betriebsrat gründe, der würde entlassen. Doch das stimmt nicht, denn sobald das Gründungsvorhaben juristisch dokumentiert ist, greift der Kündigungsschutz des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG). Darum kümmert sich die IGBCE.
Knackpunkt Kommunikation
Eine weitere Gefahr in der Gründungsphase seien Gegenkandidatinnen und -kandidaten, die der Geschäftsführung näher als der Belegschaft stünden, sodass die Betriebsratsarbeit unterwandert würde. Da Sabrina aus der Personalabteilung kam, stand auch sie zunächst in Spitzelverdacht. Die IGBCE sprach das offen an und räumte Vorurteile aus. Sabrina übernahm den Wahlvorstand. Dann ging es schnell.
In einem Restaurant trafen sich Sabrina und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter zu einem Gesprächsabend mit der IGBCE. Die informierte den Arbeitgeber formal über die Pläne. Der amerikanische Konzern Avantor hatte gerade das bayerische Unternehmen übernommen, Gründerfamilie Ritter war nicht mehr im Haus. „Fünf Minuten nach dem ersten Aushang rief der neue Geschäftsführer an und machte Wind“, erinnert sich Marco. „Angeblich hätten die Amerikaner schon einen Betriebsrat. Seine Abwehrversuche waren hanebüchen.“ Und sie waren vergeblich. Die Rechtsabteilung der IGBCE vertrat die Anliegen der Gründerinnen und Gründer des Betriebsrats erfolgreich.
Die Abwehrversuche gegen die Betriebsratsgründung waren hanebüchen.
Marco Ströer,
Gewerkschaftssekretär
IGBCE-Bezirk Augsburg
Doch die bekamen plötzlich Gegenwind aus anderer Richtung. „Unser schlimmster Gegner war nicht der neue Arbeitgeber. Wir waren es selbst. Manche Abteilungen haben gegen uns gewettert. Das hat Kraft gekostet.“ Sabrina erzählt von der ersten Betriebsratswahl, fristgerecht angesetzt. Aber nicht alle Vorgesetzten hätten ihren Leuten Bescheid gesagt. Daher konnten sich nicht alle zur Wahl stellen. Kolleginnen und Kollegen fochten die Wahl schließlich an. „Das hat uns sehr in die Kritik gebracht – hinter unserem Rücken“, erinnert sich Sabrina. Manche Mitarbeitenden sprächen wenig Deutsch und „haben alles in den falschen Hals gekriegt, weil sie uns nicht richtig verstanden“, erklärt die 43-Jährige. „Wir hatten die Kommunikation mit der Belegschaft absolut unterschätzt.“
Fortan arbeitet Marco von der IGBCE eng mit im neuen Betriebsrat, ist in der Whatsapp-Gruppe, kommt nach Schwabmünchen zu den Sitzungen, berät und verfasst Texte. Marcos Besucherausweis von Ritter ist immer freigeschaltet. „Die IGBCE ist uns eine riesige Hilfe, vor allem in Recht und Kommunikation“, sagt Sabrina.
Nach etwa einem Jahr wussten sie weite Teile der Belegschaft hinter sich. „Bis dahin war uns nicht klar, was passiert“, sagt Sabrina. „Viele Gründerinnen und Gründer konnten nicht mehr schlafen, sind abgesprungen.“ Diese harte erste Phase kennt Marco. Sobald die IGBCE eine Betriebsratswahl initiiert, werde es sehr intensiv im Betrieb. „Das ist echte Arbeit in der Freizeit, bis die Gründung vollzogen ist. Sobald der Wahlvorstand steht, nutzt man die Arbeitszeit. Dann findet die Party im Betrieb statt.“ Sabrina schreckte nichts ab. „Ich kämpfe für mein Recht, bis ich es kriege“, erklärt sie unaufgeregt. Sie sei von Natur aus durchsetzungsstark, direkt und damit wenig angreifbar.
Volle Kraft voraus
Sabrina stimmt sich mit ihrer Betriebsratskollegin Nicola Wagner eng ab. „Meine Sparringspartnerin“ nennt sie die 26-Jährige. Nicola ist stolz: „Ich habe meine Komfortzone verlassen und Selbstvertrauen gewonnen. Vor allem weiß ich, dass ich Menschen habe, die mir den Rücken stärken.“ Beide Frauen sprechen auch mit ihren Partnern zu Hause, meist auf Spaziergängen mit ihren Hunden, die oft mit zur Arbeit kommen. Gizmo, Sabrinas Dackel-Labrador, liebt das Betriebsratsbüro genauso wie Bobby, Nicolas Zwergspitz. Bei Ritter heißen die beiden „emotional support dogs“.
Sabrina sagt, auch ihr „bewegter Lebenslauf“ mache sie stark. Die gelernte Kfz-Mechanikerin arbeitete in der Gastronomie, übernahm Zeitarbeitsjobs. Schließlich schulte sie zur Personalfachwirtin um und entdeckte das Arbeitsrecht für sich. Ihr Gerechtigkeitssinn treibt sie seither an. Dank ihrer Erfahrung findet sie direkte Lösungen. In der Produktion fühle sie sich zu Hause. White Collar, die Leute im Büro, seien ihr weniger nah. Auch stellten außertarifliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Arbeit oft infrage.
Aber: Sabrina erfährt immer mehr Zustimmung. Im August 2024 wurde sie mit großer Mehrheit als Betriebsratsvorsitzende bestätigt. Mit zwei Dritteln der Belegschaft war die Wahlbeteiligung hoch. Sie sind zu elft im Betriebsrat, davon zwei Freistellungen. Sabrina sagt immer wieder: „Ich bin absolut operativ.“ Das heißt unterwegs bei den Leuten. Zehn bis zwölf Kilometer legt sie an einem durchschnittlichen Arbeitstag zu Fuß auf dem 25.000 Quadratmeter großen Firmengelände zurück.
Ich kämpfe für mein Recht, bis ich es kriege.
Sabrina Schulze,
Betriebsratsvorsitzende Ritter
„Operativ und propersonal“
Der neue Betriebsrat nahm sich als Erstes die Arbeitszeiten vor. Unter Corona war durch die Produktion von Pipetten so viel zu tun, dass die Maschinen ununterbrochen liefen. Die Belegschaft konnte viel Geld mit Extraschichten verdienen. „Aber“, sagt Sabrina, „das waren Arbeitszeitverstöße.“ Wochenendarbeit wurde früher durch den Arbeitgeber diktiert. Jetzt ist sie freiwillig. Mitarbeitende tragen sich auf einer ausgehängten Liste ein, wenn sie arbeiten möchten. Wären es nicht genug, stünde die Produktion still. Aber es gibt Boni, und so sind die Schichten voll.
Sabrinas eigener Arbeitstag beginnt morgens um 5 Uhr. Dann kann sie die Nachtschicht noch erreichen. Sie geht direkt in die Fertigungshallen. Da ist kurz vor dem Schichtwechsel Gelegenheit, zu reden. Gegen 6 Uhr checkt sie ihre E-Mails und geht wieder durch die Hallen, grüßt, umarmt und lacht. Später hat sie Sitzungen, montags tagt der Betriebsrat. Dann: Tarifkommission, Betriebsausschuss. Sie ist bei jedem Personalgespräch dabei.
Sabrina ist zuversichtlich. Seit August 2024 hat Ritter einen neuen Geschäftsführer. Er sei „operativ und propersonal“. Das sind Sabrinas Lieblingswörter, die sie auch selbst charakterisieren. Die Geschäftsführung wolle alle gut 450 Mitarbeitenden persönlich kennenlernen. Das sei im Sinne des Betriebsrats. Jeden Montag gibt es einen Redetermin. 14 Köpfe, Betriebsrat, Geschäfts- und Werksleitung. „Der Neue bezieht uns ein“, sagt Sabrina. „Wenn ich durch die Hallen gehe, merke ich den Unterschied. Den Leuten geht es spürbar besser. Sie atmen auf.“ Fast alle sind inzwischen Mitglied der IGBCE.