Auf Schicht in der neuen Welt
Früher fuhren hier jeden Tag die Kumpel ein, heute drängen sich die Touristen. Die Zeche Zollverein in Essen hat den Steinkohlebergbau hinter sich gelassen, nun bietet das Areal vielfältige Kultur. Ein Besuch der wohl schönsten ehemaligen Zeche der Welt, die heute zum Unesco-Weltkulturerbe zählt.
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Horst Michael Rudnik, genannt Hotte, zerreibt die schwarze Steinkohle zwischen seinen sauberen Fingern und strahlt. „Echte deutsche Steinkohle“, sagt er, „schwarzes Gold!“ Da ist keine Wehmut in den Augen des ehemaligen Bergmanns. Nur Begeisterung für diesen Rohstoff, der in Deutschland zwar seit 2018 nicht mehr gefördert wird, der das Leben seiner Familie aber seit vier Generationen bestimmt. Dass seine Finger jetzt schwarz sind, stört Rudnik nicht. Im Gegenteil, er scheint es zu genießen. In den vierzig Jahren, die er unter Tage verbracht hat, zuletzt als Reviersteiger, war er schließlich ständig von Kopf bis Fuß schwarz.
Heute führt der 62-Jährige Besucherinnen und Besucher über das Gelände der Zeche Zollverein und erzählt von damals. Seine Jacke, Helm und Halstuch sind strahlend weiß, Kohlestaub setzt ihnen schon lange nicht mehr zu. Seinen Job gibt es nicht mehr, aber das Outfit des Bergmanns trägt Rudnik noch immer mit Stolz. Und er kommt gern hierher, wo Industriegeschichte geschrieben wurde. Als Gästeführer hat er eine neue Passion gefunden. „Hier kann ich von früher erzählen, ohne dass jemand sagt: Du nervst!“, erzählt Rudnik. „Ich erfahre hier viel Wertschätzung und es macht mich stolz, dass ich Führungen machen darf.“
„Nimma inne Hand“ – Eindrücke einer Steigerführung
Blick ins Grüne
Einst wurde auf Zollverein rund um die Uhr malocht, tief unter der Erde schufteten Tausende Männer, manchmal nur in Stiefeln, Unterhose und Helm, weil es so heiß war. Und oben schufteten sie auch, sortierten die Kohle und sorgten für einen reibungslosen Abtransport von bis zu 12.000 Tonnen pro Tag. Heute sind Lärm und Dreck von damals nur noch zu erahnen, wenn Rudnik oder einer seiner Kollegen in den Diensten der Stiftung Zollverein davon erzählen. Die unterirdischen Strecken sind eingefallen, die Schächte zugeschüttet, der Arbeitsplatz von fünf Generationen an Bergmännern für immer verschwunden.
Horst Rudnik hätte es gut gefunden, wenn zwei, drei Zechen erhalten worden wären. Zu Forschungszwecken. Als Anschauungsobjekte. Oder für den Notfall, wie er mit der Energiekrise im Zuge des Ukrainekriegs ja eingetreten sei. Dadurch stieg der Kohlepreis so rasant, dass sich eine Förderung auch in Deutschland wieder gelohnt hätte. Aber lange hält sich der ehemalige Steiger mit dem Thema nicht auf. „Man muss mit der Zeit gehen“, sagt er. Rudnik steht oben auf dem Dach der Kohlenwäsche, in 45 Metern Höhe ist hier eine Aussichtsterrasse angelegt worden. Der Ausblick ist fantastisch. Und so grün.
Heute gehört die Zeche Zollverein zum Unesco-Weltkulturerbe. Weil sie so bedeutend war für die Industrialisierung der Region; von 1851 bis 1986 wurde hier Steinkohle gefördert. Aber auch, weil sie so schön ist. „Es ist die schönste Zeche der Welt“, sagt Rudnik. Die Zeche und die Kokerei Zollverein stehen seit Ende 2001 als „Industriekomplex Zeche Zollverein“ in der Welterbeliste der Unesco. Die Gebäude seien „herausragende Beispiele für die Anwendung der Gestaltungskonzepte der Bauhaus-Architektur in einem industriellen Gesamtzusammenhang“ – so begründete das die Unesco. Die technischen und sonstigen Strukturen auf Zollverein dokumentierten „eine entscheidende Phase der traditionellen Schwerindustrie Europas“. Der Komplex aus Zeche und Kokerei sei „ein Gesamtkunstwerk“ und repräsentiere exemplarisch „die soziale, ökonomische, ästhetische und industrielle Geschichte des Kohle- und Stahlzeitalters“.
Ich erfahre hier viel Wertschätzung.
Horst Michael Rudnik,
Gästeführer auf der Zeche Zollverein
Magie der Vergangenheit
Heute ist die Zeche Zollverein ein Ort, an dem man in die Vergangenheit blicken kann. Gästeführer wie Rudnik, die hier einst unter Tage gearbeitet haben, geben bei den Steigerführungen wunderbare Einblicke in das einstige Leben der Bergleute. Die Zeche ist aber auch ein Ort, an dem die Gegenwart gefeiert wird. Mit Kunst, Kultur und jungen Start-ups. Ob man zum Brunchen kommt, zu einem Konzert, einem Theaterstück oder im Sommer ins Werksschwimmbad eintaucht – es gibt für jeden Geschmack etwas zu erleben.
Der 55 Meter hohe Doppelbock-Förderturm von Schacht 12 überragt alles und gibt der Zeche ihr unverkennbares Erscheinungsbild. Bei Führungen, Kulturveranstaltungen, Feierlichkeiten oder sportlicher Betätigung auf der Zeche verbindet sich das Damals mit dem Heute, es ist ein faszinierendes Miteinander. Und wer den Erzählungen von Horst Rudnik lauscht, kann sich einer gewissen Magie der Vergangenheit nicht erwehren.
Horst Rudnik begann seine Ausbildung zum Bergmann 1977 im Alter von fünfzehn Jahren. Warum? Weil Uropa, Opa und Vater auch Bergmänner waren und die Berufsauswahl nicht sonderlich groß gewesen sei, sagt Rudnik. „Ich bin in einem bildungsfernen Haushalt aufgewachsen“, sagt Rudnik. Dass er auf der Zeche die Chance bekam, sich weiterzuentwickeln und die soziale Leiter hochzuklettern, hat ihm gefallen. „Die Gewerkschaft hat dabei eine große Rolle gespielt“, sagt das IGBCE-Mitglied. „Die war immer an meiner Seite und hat mich unterstützt.“
Als Bergmann trug Rudnik einen gelben Helm. Er bildete sich zum Schlosser fort und bekam einen blauen. Und schließlich stieg er zum Steiger auf, vom Arbeiter zum Angestellten, und durfte fortan Weiß tragen. Die Originale von damals können bei der „Grubenlicht und Wetterzug“-Führung betrachtet werden. „Da war ich vielleicht stolz“, erinnert sich Rudnik. Er bekam dann auch täglich frische Arbeitskleidung und musste nicht mehr eine Woche lang dieselben dreckigen Sachen tragen. Wie hart die Arbeit für die Bergmänner gewesen sein muss, kann man in der Untertage-Ausstellung erahnen. Und doch, als Rudnik 2017 nach vierzig Jahren seine letzte Schicht absolvierte, flossen die Tränen.
Der Zusammenhalt der Kumpel war groß. Man war unter Tage aufeinander angewiesen – und in der Dusche. Sonst blieb der Rücken schwarz. Während Rudnik das erzählt, läuft ein Film. Er zeigt Bergmänner bei der Arbeit. Alle sind von Kopf bis Fuß schwarz. Gab jemand das Kommando „Puckeln!“, dann stellten sich alle hintereinander in einer Reihe auf und wuschen dem Vordermann die Rückseite vom Kohlestaub frei, berichtet Rudnik weiter. Wer einem da den schwarzen Rücken zuwandte, war ganz egal, denn im Bergwerk habe es nie Diskussionen um die Nationalitäten der anderen gegeben: „Es ging immer nur darum, zusammen zu arbeiten und gesund nach Hause zu kommen.“
Fußball im Revier – Fußball unter Tage
Während der „Steigerführung mit Puttgeschichten“ erzählt Horst Michael Rudnik auch persönlich erlebte Anekdoten wie diese:
Eigene Zollverein-Brombeere
Heute ist fast ein Drittel der Fläche Zollverein bewaldet. Bei der Führung „Kohlenwäsche mit Ausblick“ ist das vom Dach des Gebäudes aus schön zu sehen. Wo früher Kohle abgebaut und Koks produziert wurde, trifft man nun auf eine große Artenvielfalt. Im Zollverein-Park konnten in der Vergangenheit mehr als 540 Pflanzenarten, rund hundert Flechtenarten, mehr als sechzig Vogelarten und über vierzig Wildbienenarten nachgewiesen werden. Dabei wurde auch eine neue Art entdeckt – und direkt nach dem Standort benannt: die Brombeere Rubus zollvereinensis.
Rudnik steht auf dem Dach und blickt über das Gelände. Die sogenannte Spontanvegetation habe es ihm angetan, erklärt er, dass sie wachsen konnte, obwohl der Boden durch den Bergbau in Mitleidenschaft gezogen worden ist. „Das ist bezaubernd schön, ich finde es faszinierend, dass alles wieder so grün geworden ist“, sagt er. „Ich mochte die alte Welt auf Zollverein. Aber die neue ist auch schön.“ Wenn er jetzt als Gästeführer auf Schicht ist in dieser neuen Welt, bleibt der Rücken sauber. Und durch seine Erzählungen gerät die alte Welt nicht ganz in Vergessenheit.
Guide: Zeche Zollverein
Zeche Zollverein
Weitere Information unter der Karte.
Besucherzentrum Ruhr
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Werksschwimmbad
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Hotelempfehlung
Wenn ein Tag auf dem Zechengelände
nicht reicht, ist hier ein Bett zu finden:
www.hotelfriends.de
Gastronomie
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Zeche Zollverein
Unesco-Welterbe
Gelsenkirchener Straße 181
45309 Essen
www.zollverein.de
Besucherzentrum Ruhr
Von hier aus können verschiedene Führungen gebucht werden:
Grubenlicht und Wetterzug
Seit dem Frühjahr 2024 neu im Programm. Die Schächte und Strecken der Zeche sind nicht mehr zugänglich, aber bei dieser Führung können Besucherinnen und Besucher in die Untertagewelt Zollverein eintauchen.
Über Kohle und Kumpel
Erkundung der Übertageanlagen und der Produktionsabläufe in der einst leistungsstärksten Steinkohlezeche der Welt. Von der Schachthalle, in der die Kohle ankam, geht es durch Produktionshallen und Werkstätten.
Infos zu weiteren Führungen, Privatführungen, Zeiten, Preisen und Treffpunkten:
Stiftung Zollverein,
Telefon 0201 246810
besucherdienst@zollverein.de
www.zollverein.de/fuehrungen
Veranstaltungen
Eisbahn
Sie wird wie jedes Jahr zur Weihnachtszeit ab dem 4. Dezember 2024 auf dem Gelände der Kokerei installiert, die Discoabende gehen bis tief in die Nacht. Eisdisco: 14. Dezember 2024 und 4. Januar 2025
Beim Silvesterlauf kann das Jahr am 31. Dezember 2024 sportlich beendet werden. In den NRW-Osterferien lockt die ehemalige Zeche mit einer Rollschuhbahn, und in den Sommerferien öffnet das Werksschwimmbad.
Weitere Veranstaltungstermine:
www.zollverein.de/highlights
Gastronomie
Verschiedene Restaurants, Cafés und Bistros laden zu einer Pause ein, zum Beispiel Casino Zollverein. Einige Locations können für private Feiern gebucht werden.
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