Menschen & Gemeinschaft

Reportage

Bohrer
in XXL

Text Gerd Schild – Fotos Moritz Küstner

Ungetüm unter Tage: Die Tunnelbohrmaschine für den Grubenwasserkanal ist insgesamt mehr als 200 Meter lang.

In Ibbenbüren wurde mehr als 500 Jahre lang Bergbau betrieben. Damit das Grubenwasser auch nach der Schließung des Bergwerks keinen Schaden anrichten kann, lässt die RAG als Betreiberin gerade für einen dreistelligen Millionenbetrag einen Kanal bauen – eine hochkomplexe Angelegenheit.

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Da ist er also, der Tunnelbohrer. Wobei: Tunnelbohrer, das ist ein zu niedlicher Begriff für die Herrenknecht-TBM, Typ VDS. 200 Meter lang ist die Maschine, in die man sogar mit einem Zug hineinfahren kann. Vorn der Bohrkopf, der ein kreisrundes Loch mit rund fünf Metern Durchmesser in den Berg bohrt. Knapp dahinter vollautomatische Systeme, die vorgefertigte Betonelemente so zusammensetzen, dass eine stabile Röhre entsteht. Dahinter ein Wust aus Hydraulikschläuchen, Knöpfen, Schienen, Lüftungsrohren. Klingt komplex? Ist es auch.

Der Maschinenführer, ein schweigsamer Mann mit vielen Tattoos auf den Armen, schaut tiefenentspannt auf die Armaturen vor sich. Heute ruht die Maschine. Etwa alle zwei Wochen müssen die dicken, roten Bohrkopfelemente an der Front mit ihren Diamantbohrern ausgetauscht werden. Den ganzen Tag schon arbeiten zwei Männer vorn in einem kleinen Spalt zwischen Fels und Maschine, in dem man sich kaum umdrehen kann. Vielleicht am Abend könne die Maschine wieder starten, sagt einer der Männer. Dann wird sie sich weiter in den Berg unter Ibbenbüren graben, mit rund zwölf Metern Vortrieb am Tag.

Mit Uwe Wobben auf der Baustelle

Grubenwasser als Ewigkeitsaufgabe

Steinkohle ist Geschichte. Das letzte Stück des in Deutschland geförderten schwarzen Goldes drückten Kohlekumpel im Ruhrgebiet dem Bundespräsidenten im Dezember 2018 in die Hand. Sechs Jahre zuvor hatte die Bundesregierung das Ende der Steinkohleförderung beschlossen. Auch in Ibbenbüren im nördlichsten Steinkohlebergwerk Deutschlands war damit Schicht im Schacht. Doch die Arbeit ist nicht vorbei. Knapp vierzig Mitarbeitende der RAG, Unternehmensbereich Ibbenbüren, kümmern sich in dem zu modernen Büroräumen umgebauten alten Materiallager um die Abwicklung des Geländes, über dem Lichthof hängt noch ein alter Lastkran. Dieses Gebäude ist denkmalgeschützt, sonst wird nicht viel bleiben. Bis auf eine große Aufgabe – doch die hat man bis in alle Ewigkeit.

Ein paar Stunden vor der Fahrt zum Tunnelbohrer: Im Konferenzraum erklärt Jürgen Kunz, was seine Arbeit als Unternehmensbereichsleiter ausmacht. „Das Grubenwasser ist eine Ewigkeitsaufgabe“, sagt Kunz. Mit dabei sind die langjährigen Bergleute und Gewerkschafter Uwe Wobben und Lothar Loose, die Besucherinnen und Besucher in den Berg und über das Grubengelände begleiten. Grubenwasser ist Regenwasser, das durch den Berg geflossen ist und mitnimmt, was aus einem Berg ausgeschwemmt werden kann, darunter Salze und Mineralien. Während des Bergwerksbetriebs wurde das aufsteigende Grundwasser abgepumpt und über alte Stollen zu Kläranlagen und dann in die Vorflut, die Ibbenbürener Aa, gebracht. Doch auch nach der Schließung ist ein Wassermanagement nötig. „Wir brauchten eine dreistelligen Millionenbetrag.

So ’n Bergmann kann eigentlich alles im Berg können wir das nicht selbst?

Jürgen Kunz,
Unternehmensbereichsleiter

RAG-Stiftung finanziert

Die Lösung ist der Grubenwasserkanal, die aktuell größte Einzelinvestition der RAG. Auf rund 65 Metern über dem Meeresspiegel soll der Kanal das ansteigende Wasser aus dem Berg sammeln und kontrolliert abfließen lassen hin zu einer neuen Kläranlage, die auch gerade gebaut wird.

Die Bergleute um Kunz und auch die RAG-Führung sehen im Tunnel die beste Lösung. Lange soll er halten und kann über hundert Jahre abgeschrieben werden. Das Geld für diese Ewigkeitsaufgaben kommt von der RAG-Stiftung, die 2007 zur Abdeckung der Folgekosten im Bergbau von der RAG, der ehemaligen Ruhrkohle AG, gegründet worden ist.

Die RAG-Stiftung finanziert aus den Erlösen des Stiftungsvermögens – aktuell rund 18 Milliarden Euro – die sogenannten Ewigkeitsaufgaben, also Bergbaufolgen, die unbefristet technische und logistische Maßnahmen erfordern. Besonders wichtig ist dabei die Grubenwasserhaltung.

„So ’n Bergmann kann eigentlich alles im Berg“, sagt Jürgen Kunz mit gesundem Bergmannsselbstbewusstsein. „Können wir das nicht selbst?“, fragte sich der Unternehmensbereichsleiter ganz am Anfang der Überlegungen, was man mit dem Grubenwasser machen kann. Doch als die Planung des Projekts begann, wurde schnell klar: Das ist etwas zu groß, selbst für erfahrene Bergleute. Also bildete man eine Arbeitsgemeinschaft mit anderen Akteuren, darunter der „Tunnelpapst“, wie Kunz das Ingenieurbüro IMM Maidl & Maidl nennt, hinzu kommen die Dorsch-Gruppe mit der Dr. Pächer AG. Die RAG ist Auftraggeber und Berater vor Ort. Um die Arbeiten unter Tage kümmert sich unter anderem eine Arbeitsgemeinschaft aus Wayss + Freytag und Züblin. Im Oktober 2021 begannen die Bauarbeiten, im kommenden Jahr soll der mehr als sieben Kilometer lange Kanal dann fertig sein und das Wasser direkt zur neuen Kläranlage leiten.

500 Jahre Leben von der Kohle und mit der Kohle

Auch wenn der Kanal am besten ewig halten soll, abseits davon bleibt nicht viel vom Bergbaustandort Ibbenbüren. Der ist aus einer Laune der Natur entstanden. Denn vor etwa 65 bis 70 Millionen Jahren brachte eine Gebirgsauffaltung das kohlehaltige Flöz aus mehr als 2.000 Metern Tiefe bis an die Oberfläche. Schon Ende des 15. Jahrhunderts wurde der Abbau des schwarzen Goldes hier urkundlich erwähnt. Es folgten 500 Jahre Bergbau. Von Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des Bergbaus in der Region wurden schätzungsweise 170 Millionen Tonnen Kohle gefördert aus dem Schafberg und dem Dickenberg, die in der Grubensprache sachlicher als Ostfeld und Westfeld bezeichnet werden. Zwischenzeitlich, Ende der 1950er-Jahre, arbeiteten hier am Standort fast 8.000 Kumpel beim damals größten Arbeitgeber der Region. Mit einer Tiefe von 1.545 Metern war das Bergwerk Ibbenbüren bis 1989 die tiefste Steinkohlenzeche Europas.

In Ibbenbüren wurde Anthrazitkohle gefördert, die eine besonders gute Brennleistung hat. Die Menschen in der Region heizten mit dem „Hausbrand“, wie man die Kohle nannte. Hauptabnehmer war das RWE-Kraftwerk Block B nebenan. Im nächsten Frühjahr sollen der 110 Meter hohe Kühlturm und der 275 Meter hohe Schornstein gesprengt werden, erzählt Wobben, der Mitglied der SPD ist und im Stadtrat sitzt. Ein Freund Wobbens wohnt knapp außerhalb des Sperrkreises für die Sprengung. Da werden sich viele Kumpel treffen und den Einsturz der Industriebauten beobachten.

Die neue Kläranlage bereitet Grubenwasser auf, das aus dem alten Bergwerk kommt und etwa Salze und Mineralien enthält.

Vier Jahre Bauzeit für das Megaprojekt

Wer die Baustelle besuchen will, nach vorn möchte zu dem Arbeitsplatz, wo sich Bohrer und Berg wie in einem Duell gegenüberstehen, muss in die Erde. Uwe Wobben und Lothar Loose fahren zum riesigen Mittelschacht, 32 Meter breit, 70 Meter tief, der hier im Wald von Ibbenbüren im Tecklenburger Land steht. Ein kleiner Drahtkäfig, mit vier Stahlseilen an einem Eisenhaken am Rand des Riesenbrunnens befestigt, dient als Fahrstuhl, Lothar Loose drückt auf den Knopf der Fernbedienung und der Fahrstuhl tuckert gemächlich nach unten. Da steht ein großer Bagger, der auf der Baustelle so niedlich wirkt, als hätte ihn ein Kind in einen Sandkasten gestellt. Vom Boden sieht man oben den blauen Himmel und links und rechts jeweils einen Tunneleingang. Im Juni hat die Tunnelbohrmaschine Barbara das erste Teilstück geschafft, die zweite Maschine ist auf der anderen Seite schon rund 2,5 Kilometer im Berg und hat noch mehr als einen Kilometer vor sich.

Uwe Wobben und Lothar Loose gehen zu einem länglichen silbergrauen Kasten mit einer Schiebetür es ist der Zug, der zur Maschine tief im Tunnel fährt. Langsam rattert der Zug los, die Schaumstoffteile an Decken und Wänden mildern den Lärm etwas ab. Lauter werde es auch nicht, wenn der Bohrer wieder arbeite, versichern die beiden. Weil die Arbeiter alle mit der Reparatur der Maschine beschäftigt sind, erklären Wobben und Loose die technischen Details des Projekts, den Vortrieb, die Hürden, den Weg des abgetragenen Gesteins.

Der ehemalige Betriebsratsvorsitzende Uwe Wobben ist heute als Abteilungsleiter der Öffentlichkeitsarbeit mit neuen Aufgaben der RAG beschäftigt. Zahllose Führungen gibt er und organisiert Veranstaltungen, um die Sorgen von Anwohnenden zu entkräften. Denn die gab es durchaus: Sorge vor Krach oder gar einstürzenden alten Stollen. Der gelernte Maschinenbauer erklärt dann, dass der Tunnelbau mit dem der U-Bahnen unter Wohnhäusern vergleichbar sei. Vor ein paar Tagen habe sich der Bohrer genau unter dem Kindergarten durchgegraben. „Die Kinder haben das nicht mitbekommen.“ Nur nachts, wenn man genau hinhört und die Unter-Tage-Baustelle nicht weit weg ist, dann sei ein ganz leises Brummen zu hören.

Ich finde es ungemein spannend, bei diesem Projekt mitzuhelfen.

Lothar Loose,
Abteilungsleiter bei der RAG

Gewerkschaftliches Leben geht weiter

Wobben ist seit 37 Jahren im Unternehmen, war zwanzig Jahre als Betriebsrat am Standort freigestellt. Bis vor zwei Jahren kümmerte er sich hauptsächlich um die Belange der Kumpel. Und als er auf diese Zeit blickt, da muss der große Mann doch kurz schlucken. „Dieser Zusammenhalt, die Kameradschaft, die waren einmalig und die wird es auch in keiner Branche mehr geben“, sagt Wobben. Unter und über Tage musste man sich auf die Kumpel verlassen und man konnte es auch.

Das gewerkschaftliche Leben in Ibbenbüren und der Umgebung aber geht weiter. Viele der Kumpel, die nach der Schließung 2018 nicht in den vorzeitigen Ruhestand gegangen sind, sind mit ihrem Wissen gern gesehene Arbeitskräfte in der Region geworden und haben dort eine Beschäftigung gefunden. Alle vier Wochen trifft sich die Ortsgruppe Ibbenbüren, in der Uwe Wobben den Vorsitz hat, um über alle aktuellen Themen der IGBCE und der RAG zu berichten.

Lothar Loose könnte längst zu Hause sitzen oder seine Tage mit Hund Elmo im gepachteten Jagdrevier in Nordhessen verbringen. Loose aber hat das Angebot der RAG für einen frühzeigen Ausstieg nicht angenommen. „Ich finde es ungemein spannend, bei diesem Projekt mitzuhelfen“, sagt er. Mehr als zwanzig Jahre hat er unter Tage gearbeitet, jetzt kümmert er sich auch um die Planung und besonders um die Genehmigungsverfahren für den Tunnelbau. Das erzählt er am Rande des großen Mittelschachtes, berichtet vom langen Weg, bis die Bauarbeiten beginnen konnten. „Dat waren derbe Dinger“, sagt Loose mit westfälischem Zungenschlag, zeigt in das Loch und meint die Bagger, die sich langsam siebzig Meter tief in die Erde gegraben haben.

Diese Tunnelelemente (links) werden im Kanal (rechts) verbaut. Das Grubenwasser fließt darin später nur in den unteren beiden Rinnen.

Diese Tunnelelemente (oben) werden im Kanal (unten) verbaut. Das Grubenwasser fließt darin später nur in den unteren beiden Rinnen.

Stille, wo es bis 2018 schepperte

Weiter geht es im Auto, vom Projekt für das Grubenwasser hin zum alten Zechengelände. Dort steht ein einzelnes Betonelement des Kanals friedlich in der Brachlandschaft. So ruhig wie an diesem Spätsommertag im Jahr 2024 wird es wohl nicht bleiben, denn bald sollen sich hier andere Unternehmen ansiedeln, das weiß Stadtrat Uwe Wobben aus den nicht öffentlichen Sitzungen im Rathaus. Und so ruhig war es hier auch die letzten 500 Jahre nicht. Unweit der Stelle, wo Uwe Wobben gerade seinen weißen Schutzhelm zurechtrückt, stand bis vor Kurzem noch die riesige Siebanlage der Kohleaufbereitung. Die siebte die Kohle nach Größe aus und machte dabei nicht nur schwingende Bewegungen, die die Erde zittern ließen, sondern auch richtig Lärm.

Die Aufbereitung war das größte Gebäude des Bergwerks. Hier wurden täglich viele Tausend Tonnen Kohle und Gestein voneinander getrennt. Die kamen in großen 15-Tonnen-Pötten alle neunzig Sekunden aus rund 800 Metern Tiefe.

Blickt man durch das Betonrund des Vorzeigestücks vom Grubenwasserkanal, sieht man die riesige grüne Halle, die an einen Flugzeughangar erinnert. „Da wurde die Kohle gesammelt und mit Rechenanlagen vermischt“, erklärt Wobben. Heute lebt dort ein einzelner Uhu, noch, denn bald wird er wohl umgesiedelt. Die Halle, die mittlerweile der Stadt gehört, soll abgerissen werden, um der Zukunft Platz zu machen. Die Kohle mag Geschichte sein – aber es bleiben spannende Zeiten für alle hier in Ibbenbüren.