Menschen & Gemeinschaft

Einer von uns

Zufrieden in Essen: Tuncay lebt in einem Reihenhaus und liebt seine Stadt und seinen Garten.

„Ich will mitentscheiden“

Text Susanne Rohlfing – Fotos Jan Richard Heinicke

Tuncay Cin ist Essener durch und durch. Doch sein Name verrät die türkische Herkunft. Er ist es leid, sich dafür rechtfertigen zu müssen. Deshalb setzt sich der 51-Jährige für Vielfalt, Integration und Weiterbildung ein. Als Betriebsrat, IGBCE-Mitglied und Leiter eines Vätertreffs.

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Fröhlicher Austausch: Alle zwei Wochen treffen sich Tuncay und andere Väter mit Migrationshintergrund.

Der Tisch ist gedeckt, die Stühle sind zurechtgerückt, Tuncay Cin hat Kaffee gekocht und Gebäck bereitgestellt. Nur die anderen Väter fehlen noch. Das Ambiente: Essener Bergbaucharme, gepaart mit sozialem Flair. Das passt zu Tuncay, dem türkischstämmigen Bergmannssohn, der nicht still sitzen und schon gar nicht danebenstehen kann, der anpackt, nichts unversucht lässt im Kampf für eine vielfältige, demokratische ­Gesellschaft.

Seine Gruppe für Väter mit Mi­gra­tions­hin­ter­grund trifft sich alle zwei Wochen in einer Kita der AWO, eingerichtet in einem ehemaligen Schalthaus direkt neben dem Förderturm von Schacht 3/7/10 der Zeche Zollverein. Früher wurde hier Kohle ausgegraben. Heute suchen hier die Männer türkischer Bergmannsfamilien nach Wegen, nicht nur auf dem Papier und in ihren Herzen Essener zu sein, sondern auch in den Augen ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger.

Sie stemmen sich gegen das Klischee, dass Männer mit Migrationshintergrund die Kindererziehung allein den Frauen überlassen. Und sie sind es leid, sich ewig rechtfertigen zu müssen, weil sie Tuncay heißen, Gökhan, Burhan oder Muhammed. „Martha, Ulrich, Heinrich, Anton, Martha, Martha, Emil, Dora“ – so erklärt Muhammed die Schreibweise seines Namens. Dann lachen alle und erfreuen sich daran, wie ein gebürtiger Essener seinen türkischen Namen buchstabiert.

Mit Tuncay auf Achse

Die Männer treffen sich teilweise seit gut zehn Jahren. Ihre Väter, Onkel und Opas waren Bergmänner in Zonguldak, einer türkischen Steinkohlestadt. Im Rahmen des deutsch-türkischen Gastarbeiterabkommens kamen sie in den 1960er-Jahren nach Essen. Ihre Söhne sind in Deutschland zur Welt gekommen, die Türkei ist für sie ein Urlaubsziel.

„Dort sind wir Deutschländer“, sagt Tuncay, „und hier in Essen Türken.“ In den Augen der anderen also nirgends zu Hause. Aber das lässt sich Tuncay nicht einreden, er betont mit Nachdruck: „Ich bin Essener, ich bin Deutscher, das ist meine Heimat!“ Sein Name: Theodor, Ulrich, Nordpol, Cäsar, Anton, Ypsilon.

Ich bin Essener, das ist meine Heimat!

Tuncay Cin,
Mitglied im Interkulturellen Bundesarbeitskreis der IGBCE

Die Söhne der türkischen Bergmänner haben andere Berufe gewählt als ihre Väter. Tuncay ist Industriemechaniker, Gökhan Maschinenbautechniker, Burhan, Tuncays Neffe, ist Buchhalter. „Buchhalter!“, sagt Tuncay. Er ist sichtlich stolz auf den Sohn seines Bruders. Genauso auf seine eigenen Kinder. Die Familie klettert die soziale Leiter stetig nach oben. Tuncays 26 Jahre alter Sohn ist Disponent bei der Deutschen Bahn, seine 24 Jahre alte Tochter studiert Betriebswirtschaftslehre, und die Elfjährige geht aufs Gymnasium. Dazulernen und sich weiterentwickeln, das treibt Tuncay an. Und dazu motiviert er andere.

Der 51-Jährige arbeitet seit 34 Jahren bei Evonik. Seit 2017 ist er Mitglied des Betriebsrats. Zudem ist er Sprecher des Arbeitskreises Mi­gra­tion und Integration des IGBCE-Bezirks Niederrhein und gehört dem Interkulturellen Bundesarbeitskreis der IGBCE an. Dazu führt er seit vier Jahren die Vätergruppe und hat sich extra dafür zum Dialogbegleiter ausbilden lassen. Und der Elternpflegschaft in der Schule seiner Tochter gehört er auch an.

Immer dabei: ein Foto der Eltern, die als Gastarbeiter kamen.

Unermüdlich und mit sanfter Hand

Wieso er sich so viel ehrenamtliche Arbeit aufhalst? „Weil ich mitentscheiden will“, sagt Tuncay. „Ich kann nicht einfach nur dabeistehen. So kann ich meinen Senf dazugeben, und das ist immer gut.“

Mitentscheiden: ja. Bestimmen: nein. Tuncay führt mit unermüdlicher Energie, aber mit sanfter Hand. Er will den Dialog, das Miteinander. „Ich muss nicht immer den Takt vorgeben“, sagt er. „Wir arbeiten alle zusammen. Jeder bringt seine Stärken und Schwächen ein.“ Die Kraft der Vielfalt nutzen, Tuncay nimmt das sehr ernst.

Als die anderen Väter zum Gruppentreffen kommen, reicht er erst mal einen hübschen Flakon mit Kölnischwasser für die Hände herum. Alle sollen erfrischt in die Gespräche gehen. Dann schenkt Tuncay Kaffee aus. Schließlich fragt er in die Runde, wie es allen so gehe. Jeder kommt an die Reihe und erzählt, was gut war für ihn in letzter Zeit, was schlecht war, wie es den Kindern geht.

Es ist das erste Treffen nach den Sommerferien und es entwickelt sich ein Gespräch über die Tücken des Urlaubs mit Kindern. Wer Rat braucht, bekommt welchen. Wer sich einfach mal ein paar Dinge von der Seele reden möchte, kann das hier tun. Tuncay lenkt das Gespräch immer wieder ein wenig, aber ganz unauffällig. Es geht auch um Termine. Denn die Männer unternehmen sehr viel. Tuncay erzählt von einem Lesefest, Muhammed weist auf ein Wochenendseminar seiner Vater-Kind-Sportgruppe hin, und es geht um einen Infoabend zum Thema Vorsorgevollmacht.

Wir müssen den Kindern vermitteln, dass es sich lohnt, für die Demokratie zu kämpfen.

Tuncay Cin

„Die wollen sich doch gar nicht integrieren“, heißt es gern mal über zugewanderte Menschen in Deutschland. Doch, viele wollen. Tuncay will, Burhan, Gökhan, Muhammed, Mustafa – sie alle wollen. Vor allem wollen sie, dass ihre Kinder es mal leichter haben als sie selbst. Deshalb bereitet ihnen die aktuelle politische Gemengelage im Land Sorgen, die Wahlergebnisse im Osten der Republik erschrecken sie. „Wir waren schon so weit“, sagt Tuncay, „aber gerade wird alles wieder schlimmer.“

Mit seiner elfjährigen Tochter war er auf einer Demonstration gegen die AfD. „Sie war voll happy, das ist gut, da hat sie schon mal Flagge gezeigt“, sagt Tuncay. „Wir müssen den Kindern vermitteln, dass es sich lohnt, für die Demokratie zu kämpfen.“

Woher nimmt er die Energie? Das frage er sich auch, sagt Neffe Burhan. Wenn er selbst zu Hause mit seiner Frau „einfach nur chillen“ wolle, stehe garantiert Tuncay vor der Tür mit dem Plan für irgendeine Aktion. „Er will helfen, dabei fühlt er sich wohl, mich hat er großgezogen wie einen kleinen Bruder.“

Nahe der Zeche Zollverein kam Tuncay Cin zur Welt. Auf dem Weg zur Arbeit radelt er an der Zeche vorbei.

Stimmungsaufheller

Muhammed beschreibt Tuncay als einen „sehr positiven Menschen. Den kannst du in egal welche Community reinlassen, er wird klarkommen.“ Wenn er besonders guter Laune sei, frage ihn seine Frau immer, ob er mit Tuncay telefoniert habe. Denn diese Gespräche seien die besten Stimmungsaufheller.

Tuncay ist das viele Lob fast unangenehm. „Ich bekomme ja auch ganz viel Energie zurück.“ Eines der schönsten Gefühle sei zum Beispiel, zu sehen, was aus den Kindern wird, deren Väter er seit so vielen Jahren trifft. Kürzlich hat eines sein Lehramtsstudium abgeschlossen. Muhammed erzählt, dass seine älteren Kinder mal zu ihm gesagt haben: „Wir sind aufgewachsen wie Akademikerkinder, obwohl wir keine sind.“ Er lächelt stolz. Diese Vätergruppe war nicht ganz unschuldig daran.

Lob für den 51 Jahre alten Industriemechaniker gibt es auch von der IGBCE. Jennifer Mansey leitet den Interkulturellen Bundesarbeitskreis (IBAK) der Gewerkschaft. Es gibt ihn seit rund fünfzig Jahren und er habe sich zum Ziel gesetzt, „regelmäßig sichtbar zu machen, wie bunt wir sind“, sagt Mansey. In der IGBCE organisierte Kolleginnen und Kollegen stammen aus gut 130 verschiedenen Nationen. Und immer wieder hört Mansey von ihnen, dass sie Diskriminierungserfahrungen bis hin zu Rassismus erleben. Ein gängiges Beispiel: Statt mit dem Vornamen werden Schichtarbeiter mit ihrer ­Nationalität ­gerufen.

Er ist einer, der die Themen treibt, sie von der Basis aus anschiebt, andere mitzieht.

Jennifer Mansey,
Leiterin Interkultureller Bundesarbeitskreis (IBAK) der IGBCE

Bei Evonik, dem Arbeitgeber von Tuncay, gehe man das Thema vorbildlich an, sagt Mansey. So habe vor einiger Zeit eine Videoreihe aufgerüttelt. Die Gesamtjugend- und Auszubildendenvertretung hatte mit Unterstützung von Gesamtbetriebsrat und Arbeitgeber im Rahmen der internationalen Wochen gegen Rassismus eine Befragung an allen deutschen Standorten auf den Weg gebracht. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konnten anonym ihre Diskriminierungserfahrungen im Alltag oder am Arbeitsplatz auf Zetteln niederschreiben. Daraus entstand die Filmreihe „Azubis klären auf“, die für Aufsehen sorgte. „Wenn man diese Beispiele vorgesprochen bekommt, erfährt man sie noch mal in einer ganz anderen Intensität“, erklärt Mansey. Über Tuncay sagt sie: „Er hat eine unglaubliche Energie. Er ist einer, der die Themen treibt, sie von der Basis aus anschiebt, andere mitzieht.“

Mit seiner Familie wohnt Tuncay in einem Reihenhaus in Essen-Katernberg. Bevor er es kaufte, klingelte er bei den Nachbarn. Er stellte sich vor und fragte unverblümt, ob sie ein Problem mit ihm und seiner türkischen Herkunft haben würden. Hatten sie nicht. Nachdem er das Haus gekauft hatte, stellte er im gesamten Viertel klar, dass er angesprochen werden will, sollte es Ressentiments geben. Gab es bis heute nicht. Tuncay liebt sein Viertel. Seine Stadt. Sein Leben in ­Deutschland.

Die Interkulturelle Woche

Die Interkulturelle Woche (IKW) findet bundesweit seit 1975 immer Ende September statt. Sie ist eine Initiative der Deutschen Bischofskonferenz, der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Griechisch-Orthodoxen Metropolie. Unterstützt und mitgetragen wird sie unter anderem von Gewerkschaften. In diesem Jahr lautete das Motto „Neue Räume“. In fast 700 Städten und Gemeinden gab es rund 5.000 Veranstaltungen. Der Tag des Flüchtlings ist Bestandteil der Aktionswoche. Der Interkulturelle Bundesarbeitskreis der IGBCE, dem Tuncay Cin angehört, ließ verschiedene Gewerkschaftsmitglieder im Rahmen der IKW ihre Vornamen in eine Kamera sagen. Daraus soll ein Video entstehen. Das Motto: „Wir alle sind die IGBCE.“