Arbeit & Gesellschaft

Kompass

„EU, was nun?

Text Lars Ruzic – Illustration Eugen Schulz

Was sind die Herausforderungen nach den Europawahlen? Wie will die EU die großen Zukunftsaufgaben bewältigen? Diesen und anderen Fragen geht der aktuelle Kompass-Talk nach – mit dem IGBCE-Vorsitzenden Michael Vassiliadis und Katarina Barley, Vizepräsidentin des EU-Parlaments.

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Die Europawahlen im Juni haben zu einem Rechtsruck im Parlament geführt. Welche Auswirkungen wird das auf die Entscheidungsfindung haben, Frau Barley?

Katarina Barley: Immerhin ist der Rechtsruck nicht ganz so krass ausgefallen, wie wir es eigentlich befürchtet hatten. Ja – es gibt jetzt drei statt bisher zwei rechtspopulistische bis rechtsextreme Fraktionen, aber insgesamt ist das Bild differenziert. Die Rechten haben längst nicht in allen Ländern zugelegt, sind teilweise, wie etwa in Finnland, sogar abgestürzt. Die AfD hat nun aber die schlimmsten Rechtsextremen, mit denen wirklich niemand mehr reden wollte, in einer Fraktion eingesammelt. Das sind echte Europafeinde. Das wird sich auf die Arbeit auswirken. Es wird noch schwerer, Kompromisse zu finden. Wir haben keine progressive Mehrheit mehr. Wir brauchen jetzt immer die Konservativen. Und die könnten ihre Position ausspielen und in manchen Fällen mit den Rechten gemeinsame Sache machen. Dann werden wir sie stellen. Denn das wäre ein Aufkündigen des demokratischen Konsenses.

Foto: Katarina Barley | www.katarina-barley.de

Katarina Barley, 1968 geboren, ist Europäerin durch und durch. Die promovierte Juristin zog 2019 als Abgeordnete in das Europaparlament ein, von dem sie zur Vizepräsidentin gewählt wurde. Zuvor war sie von 2013 bis 2019 Mitglied des Deutschen Bundestages – unter anderem als Bundesfamilienministerin und Justizministerin. Von 2015 bis 2017 war Barley Generalsekretärin der SPD, in die sie 1994 im Alter von 26 Jahren eintrat.

Welche Schlüsse müssen die europäischen Industriegewerkschaften daraus ziehen, Michael?

Michael Vassiliadis: Wir kämpfen ja schon lange darum, in Europa den sozialen Dialog weiterzuentwickeln – so weit, dass er auch zu Ergebnissen führt. Das Europaparlament ist dafür immer sehr offen gewesen. Gleichzeitig müssen wir Europa industriepolitisch voranbringen. Viele Herausforderungen lassen sich nur im EU-Maßstab bewältigen. Wie das mit der weiteren Fragmentierung im Parlament möglich sein wird, werden wir sehen. Für Arbeitnehmende ist das Wahlergebnis zunächst keine gute Nachricht. Aber wir werden deshalb in unseren Bemühungen nicht nachlassen.

Die wirtschaftlichen Rahmbedingungen sind derzeit wenig hilfreich. Die EU scheint zum Spielball der beiden Wirtschaftsmächte USA und China geworden zu sein. China flutet die Märkte, die USA schotten sich ab, was den Druck auf die EU abermals erhöht. Was kann Politik dagegen tun?

Barley: Die Diagnose stimmt natürlich. Deshalb müssen wir selbst stärker werden und uns selbst auch wieder stärker schätzen. Das beginnt bei strategischer Autonomie. Wir dürfen nicht mehr so abhängig von anderen Mitspielern sein. Das macht uns erpressbar. Das betrifft alles Digitale, Rohstoffe, aber etwa auch pharmazeutische Produkte. Wir müssen dafür die eigenen Investitionen verstärken. Gleichzeitig müssen wir unlautere Konkurrenz unterbinden und die eigenen Anbieter stärken. Dass etwa chinesische Versandplattformen unsere Steuern und Zollvorschriften umgehen, geht gar nicht. Der Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM), mit dem CO2-intensive Importe in die EU mit einer Abgabe belegt werden, ist ein gutes Beispiel, wie wir unsere Wirtschaft sinnvoll schützen können.

Der CBAM soll ja auch das EU-Ziel unterstützen, 2050 als erster Kontinent weltweit klimaneutral zu werden. Vier von fünf IGBCE-Mitgliedern hatten dieses Ziel in unserer Umfrage zur Europawahl für unrealistisch erklärt. Welche Schlüsse sind daraus zu ziehen, Michael?

Vassiliadis: Zunächst: Die Kolleginnen und Kollegen sind in der überragenden Mehrheit proeuropäisch eingestellt. Auch das hat die Umfrage ergeben. Und sie sind auch nicht gegen die Ziele. Allerdings sind es Fachleute, die aus den relevanten Branchen kommen und deshalb die Herausforderung sehr gut einschätzen können. Und was sie sagen, ist: So, wie ihr das angeht, so klappt das nicht. Wir können nicht einfach nur Ziele formulieren und gleichzeitig den Soll-ist-Abgleich verweigern. Das Argument müssen wir ernst nehmen. Wenn wir aber genau das tun, merken wir: Wir kommen nicht so schnell voran, wie wir es uns vorgenommen haben. Und: Die meisten Ziele sind formuliert worden in einer Zeit wirtschaftlicher Prosperität, billiger Rohstoffe, finanzieller Stärke und friedlicher Koexistenz. Das hat sich alles geändert. Und die Themen, die wir eben besprochen haben, kommen noch obendrauf. Wir brauchen deshalb eine neue vorwärts gerichtete Strategie, die CO2-Reduktion stärker mit der Modernisierung unseres Kontinents in Verbindung bringt. Denn wir drohen China und den USA gegenüber den Anschluss zu verlieren.

Wir müssen die eigenen Investitionen verstärken.

Katharina Barley,
Vizepräsidentin des EU-Parlaments

Wie blicken Sie darauf, Frau Barley?

Barley: Ich würde noch die Pandemie und ihre Folgen hinzufügen wollen – und für Deutschland das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das der Bundesregierung auferlegt hat, sechzig Milliarden Euro einzusparen – genau in einer Zeit, in der wir eigentlich investieren müssen. All diese veränderten Rahmenbedingungen müssten uns eigentlich dazu bewegen, unsere aktuellen Regelungen zu ändern – vor allem natürlich die deutsche Schuldenbremse. Wenn sich hier nichts bewegt, stehen wir vor einem nahezu unlösbaren Problem: Der Investitionsbedarf ist gewaltig gestiegen, die Mittel aber sind gewaltig gesunken.

Vassiliadis: Und das ist automatisch ein europäisches Problem. Wir unterschätzen als Deutsche gern, wie stark wir im Zentrum des wirtschaftlichen Netzwerks Europa stehen. Aus den Gesprächen mit anderen Branchengewerkschaften weiß ich: Wenn die deutsche Chemie schwächelt, gilt das in der Folge auch für die der anderen Ländern. Das erleben wir gerade. Wir haben also eine große Verantwortung für Europa. Und der kommt man nicht nach, wenn man im Stil eines Kämmerers Finanzpolitik macht. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und die Art und Weise, wie der Finanzminister damit umgeht, ist nichts anderes als eine Zukunftsbremse für Deutschland und Europa. Klar ist aber auch, dass die EU als Institution vorankommen muss. Ich setze darauf, dass sowohl die neue Kommission als auch das Parlament trotz aller Schwierigkeiten selbstbewusst die Herausforderungen angeht.

Michael Vassiliadis, Moderatorin Lea Karrasch und Katarina Barley im Kompass-Talk.

Foto: Bernal Revert/dpa

Wie kann die EU-Politik das denn tun?

Barley: Der frühere EZB-Chef Mario Draghi hat dazu ja gerade einen umfangreichen Bericht vorgelegt, in dem er unter anderem gut 800 Milliarden Euro jährlich an Investitionen fordert, um die EU wieder international wettbewerbsfähig zu machen. Wie das finanziert werden soll, wird allerdings nicht wirklich beschrieben. Wenn Deutschland als wichtigster Geldgeber schwächelt, wird das die Beantwortung der Finanzierungsfrage weiter erschweren. Die EU hat keine eigenen Einnahmen. Wir fordern schon lange, dass sie Eigenmittel erheben können sollte, wie etwa mit dem CBAM. Aber auch damit würde sie solche Volumina nicht finanzieren können.

Vassiliadis: Wir müssen allerdings auch klarmachen, dass für Zukunftsgestaltung und Investitionen nicht allein die öffentlichen Haushalte zuständig sind. Es gibt viel Geld in der Wirtschaft und auch bei den privaten Akteuren. Ihnen haben wir lange Fehlanreize gesetzt, indem wir politisch gewünschte, aber nicht marktgängige Ausgaben mit Zuschüssen herbeisubventioniert haben. Das funktioniert für die Initialzündung, nicht aber auf Dauer. Vieles ist aber zur Dauersubvention geworden. Politik muss Rahmenbedingungen und Infrastruktur schaffen, und sie muss Impulse für private Investitionen geben, aber die Transformation nicht bis ins letzte Detail steuern. Und sie muss die eigenen Ausgaben in diesem Bereich endlich als Investitionen ansehen, die sich langfristig aus- und zurückzahlen. Wie es Unternehmen eben auch machen. Diese Forderungen im Draghi-Report teile ich, andere weniger. Wir müssen das breit diskutieren – und dann schnell entscheiden. Denn wir werden um jeden Arbeitsplatz in der Industrie kämpfen müssen – gerade auch, weil das gute Arbeitsplätze sind.

Politik muss Rahmenbedingungen und Infrastruktur schaffen, und sie muss Impulse für private Investitionen geben.

Michael Vassiliadis,
Vorsitzender der IGBCE

Welche Möglichkeiten wird das Europaparlament nach den Wahlen haben, sich für Beschäftigungssicherung einzusetzen?

Barley: Es wird nicht leichter werden. Wir können ohne die Konservativen nichts mehr beschließen – und das werden sie ausnutzen. Dort sind viele unterwegs, die an die Bereiche Beschäftigtenrechte und Mitbestimmung nur allzu gern die Axt anlegen würden. Dagegen werden wir uns natürlich mit allem stemmen, was wir haben – und uns gleichzeitig voll darauf konzentrieren, Arbeitsplätze zu erhalten.

IGBCE Kompass: Den Polit-Talk mit Michael Vassiliadis und Gast kannst du in voller Länge nicht nur in der digitalen Ausgabe dieses Magazins sehen und hören, sondern auch über die „Meine IGBCE“-App, im Web bei igbce.de sowie auf dem Youtube-Kanal deiner Gewerkschaft und auf allen gängigen Podcast-Plattformen. Dort lässt er sich auch leicht abonnieren.