Arbeit & Gesellschaft

Hintergrundstory

Mangelware
Personal

Text Isabel Niesmann und Lars RuzicFotos Alexander Reupke

Deutschland hat ein Problem: Der Wirtschaft fehlen Fachkräfte. Schon heute haben die meisten Branchen Schwierigkeiten, offene Stellen neu zu besetzen. Besonders stark betroffen: die Industrien der IGBCE. Wie groß das Ausmaß des Fachkräftemangels ist, zeigt die jüngste Mitgliederumfrage.

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So ist die Lage in den Betrieben

Tage vergehen. Wochen. Monate. Mehr als ein Vierteljahr ist es inzwischen her, dass sie beim Keramikhersteller Ceramtec im fränkischen Lauf eine Stelle als Elektriker (w/m/d) ausgeschrieben haben. Elektriker. Nicht Weltraumingenieur. Nicht KI-Entwickler. „Beworben hat sich bisher niemand“, berichtet der Betriebsratsvorsitzende Alexander Schätz.

Es ist ein Fall wie Hunderttausende in Deutschland. Mag die Industrie derzeit noch so schwächeln, der Fachkräftemangel scheint immer noch größer zu sein. Ein Problem mit Ansage: Seit mehr als fünfzig Jahren werden zu wenig Kinder geboren, die Bevölkerungszahl sinkt. Ein Viertel aller Erwerbstätigen in Deutschland ist älter als 55 Jahre. Künftig verabschieden sich jährlich mehr Menschen in Rente, als neu auf den Arbeitsmarkt kommen.

Gleichzeitig gehen aktuell 46,1 Millionen Menschen einer Erwerbstätigkeit nach – noch mal 0,4 Prozent mehr als im Vorjahr und Allzeitrekord. Trotz wirtschaftlicher Flaute und Stellenabbau vielerorts sind derzeit immer noch mehr als 1,3 Millionen Stellen offen. Auf zwei Arbeitslose kommt rechnerisch ein zu vergebender Job.

Das sogenannte Mismatch, also das Auseinanderlaufen von Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt, hat sich längst strukturell zementiert. Und mit jeder neuen Stellenausschreibung können sich die Personalverantwortlichen wieder an dieses absurde Theaterstück von Samuel Beckett erinnern. Denn was der Ausschreibung folgt, ist viel zu oft wie „Warten auf Godot“.

Elektriker oder Mechaniker suchen wir teilweise über ein halbes, Dreivierteljahr.

Manuel Tome Amenedo,
Betriebsrat bei Excella

Umfrage belegt Problem

Wie groß das Ausmaß des Fachkräftemangels inzwischen in den Industrien der IGBCE ist, hat die jüngste Mitgliederumfrage deiner Gewerkschaft offengelegt, an der sich fast 3.500 Menschen beteiligt haben. 82 Prozent der Befragten berichten davon, dass es ihrem Betrieb inzwischen „eher schwer“ oder „sehr schwer“ falle, neues Personal zu finden. Der Wert unterscheidet sich nochmals spürbar nach Branchen – die Bandbreite reicht von 76 Prozent in der Pharmaindustrie und 81 Prozent in der Energiewirtschaft bis zu 91 Prozent in der Papier- und 92 Prozent in der Kunststoffindustrie.

„Schwer“ lässt sich dabei in Monaten beziffern. Die Mehrheit der Befragten (54 Prozent) schätzt, dass es in ihrem Betrieb ein halbes Jahr oder länger dauert, bis eine freie Stelle besetzt werden kann – nicht selten sogar länger als ein Jahr. „Elektriker oder Mechaniker suchen wir teilweise über ein halbes, Dreivierteljahr“, erzählt Manuel Tome Amenedo, Mitglied des Betriebsrats beim Arzneimittelhersteller Excella. „Man merkt, dass Leute nicht mehr so gebunden und schnell wieder weg sind, wenn sie irgendwo etwas Besseres oder etwas näher am Wohnort gefunden haben.“ Und das, obwohl die Altersvorsorge und die Tarifverträge der chemischen Industrie gut seien. „Bei uns gibt es im Vergleich zu einem Einzelhandwerker wahrscheinlich die besseren Sozialleistungen.“

Ceramtec und Excella sind keine Einzelfälle. Es sind es vor allem die klassischen Facharbeiterinnen und Facharbeiter, die händeringend gesucht werden. Das bestätigt auch die Umfrage unter den IGBCE-Mitgliedern. Im Ranking der meistgesuchten Beschäftigten liegen sie mit Abstand auf Platz eins. Das liegt auch daran, dass die Branchen und Betriebe hoch spezialisiert sind. „Im Moment ist die Fachkräftesituation sehr schwierig“, berichtet auch Thomas Lang, Betriebsratsvorsitzender von Iprotec, das zu Zwiesel Kristallglas gehört. Fachkräfte, die für die speziellen Glasmaschinen eigentlich gebraucht würden, ließen sich nicht finden, nur Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer.

Foto: Ceramtec

Die Fachkräfte, die wir brauchen, versuchen wir selbst auszubilden.

Alexander Schätz,
Betriebsratsvorsitzender bei Ceramtec

Das Unternehmen brauche Pressenführer, Blasmaschinenführer oder Verfahrensmechaniker, die in Glashütten ausgebildet wurden. „Die sind leider sehr spärlich. Wer sie ausbildet, behält sie eigentlich auch. Und die stehen nicht auf der Straße und warten, bis wir kommen.“ Durch Leiharbeitnehmende würden Stellen zwar schnell besetzt, bis sie effektiv besetzt seien und man jemanden ausgebildet habe, der die Maschine so fahre, dass die Qualität stimme, brauche es dann aber mindestens eineinhalb Jahre.

Beim Industriekeramikspezialisten Ceramtec ist das nicht anders. „Die Fachkräfte, die wir brauchen, versuchen wir selbst auszubilden“, erzählt Betriebsrat Schätz. Denn am Markt seien die schwer zu bekommen. Ein Großteil der Beschäftigten arbeitet in der Produktion, als Industriemechaniker*in, technische*r Produktdesigner*in, Industrieelektriker*in oder Industriekeramiker*in. Ein Industrieunternehmen im Bereich Keramik sei „ein kleines bisschen exotisch“. Hinzu komme die Nähe zu Nürnberg und anderen größeren Unternehmen dort, die im Zweifelsfall besser bezahlten. „Da ist die Konkurrenz groß.“

Zusätzliche Belastung durch liegen gebliebene Arbeit

Das Problem ausbaden muss der Rest der Mannschaft. 75 Prozent berichten davon, dass sie die durch unbesetzte Stellen sonst liegen bleibende Arbeit unter dem Rest des Teams aufteilen müssten. Genauso hoch ist auch der Anteil derjenigen, die kritisieren, dass es in ihrem Betrieb generell zu wenig Beschäftigte gebe für die Arbeit, die dort zu verrichten sei.

„Man versucht, mit der Mannschaft, die da ist, das tägliche Geschäft abzuwickeln“, sagt Andy Scheuermann, Betriebsrat beim Kunststoffunternehmen Polyvantis in Darmstadt. Dementsprechend hoch sei die Arbeitsbelastung der Kolleginnen und Kollegen, die Überstunden häuften sich an. „Im Endeffekt ist es Durchhalten, während wir gleichzeitig versuchen, uns nicht zu überarbeiten, weil die Arbeit nicht nachlässt“, ergänzt Katharina Lightowler, Betriebsrätin beim Mineralsalzhersteller Dr. Paul Lohmann im niedersächsischen Emmerthal.

Oft regiert dabei die Macht des Faktischen: „Wir haben Vierschichtsystem, 365 Tage im Jahr, 24 Stunden lang – das Glas rinnt. Es muss produziert werden“, bringt es Iprotec-Betriebsrat Lang auf den Punkt. „Das heißt, dass ein Mitarbeiter das mit machen muss oder dass ein Mitarbeiter zwei Maschinen gleichzeitig fahren muss.“

Bei den Betroffenen sorgt das für zusätzliche Belastung und für Frust. Sie beschleicht das Gefühl, dass ihr Management sich auf der Mehrarbeit der Stammbelegschaft ausruht und das Werben um neue Köpfe schleifen lässt. In Zahlen: 57 Prozent der Befragten kritisieren, ihr Arbeitgeber unternehme nicht genug, um neue Fachkräfte zu finden. Und sogar 76 Prozent meinen, ihr Arbeitgeber lasse es an ausreichendem Engagement vermissen, die bestehende Belegschaft im Unternehmen zu halten und ordentlich weiterzubilden.

Man versucht, mit der Mannschaft, die da ist, das tägliche Geschäft abzuwickeln.

Andy Scheuermann,
Betriebsrat bei Polyvantis

Arbeitgeber sollten Personalplanung frühzeitig angehen

Polyvantis-Betriebsrat Scheuermann formuliert es so: „Natürlich wirbt man zum Beispiel mit Goodies wie Jobrad oder Obstkorb. Aber das werden nicht die Dinge sein, die ausschlaggebend sind, damit sich Fachkräfte für einen Betrieb wie unseren entscheiden würden.“ Dass das Unternehmen mit Öffnungsklauseln zum Chemietarif arbeite und einen verbandsbezogen Haustarifvertrag anstrebe, mache es sicherlich nicht leichter.

Bei Ceramtec gibt es heute kostenlos Kaffee und Wasser, ebenso wie Sportevents und außertarifliche Zusagen das war vor zehn Jahren noch anders. Auch mit Höhergruppierungen gehe die Personalabteilung inzwischen lockerer um, berichtet Alexander Schätz. Und bei jeder Kündigung gebe es „Austrittsinterview“, um zu erfahren, warum jemand das Unternehmen verlässt.

Was sich Katharina Lightowler von ihrem Unternehmen wünscht, ist eine bessere Personalplanung: Schreibt man Stellen schneller aus, verkürzt sich die Zeit, bis neue Kolleginnen und Kollegen kommen. Gleiches gelte für die Nachfolge, wenn jemand in Rente gehe. „Wenn uns der Arbeitgeber die Personalplanung früher zuschicken würde, könnten wir als Betriebsrat auch mehr unterstützen.“

Es gibt also Ansatzpunkte für die Arbeitgeber, an ihren eigenen Skills zu arbeiten und nicht immer nur die der (ausbleibenden) Bewerberinnen und Bewerber abzufragen. Aus Sicht der IGBCE-Mitglieder stehen dabei „bessere Angebote zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ ganz oben auf der Anforderungsliste, gefolgt von „besseren Angeboten zu flexibler Arbeit“, „besseren Weiterbildungsmöglichkeiten“, „besseren Angeboten für altersgerechtes Arbeiten“ und „mehr Nachwuchs ausbilden“. Und natürlich immer wieder: mehr Geld zahlen!

Ich wünsche mir eine bessere Personal­planung von meinem Arbeitgeber.

Katharina Lightowler,
Betriebsrätin bei Dr. Paul Lohmann

Entgelte international nicht mehr wettbewerbsfähig

Tatsächlich spiegeln die IGBCE-Mitglieder gerade auch mit der letzten Forderung, was sich für die kommenden Jahre der großen Fachkräftelücke andeutet. Der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis ist überzeugt, dass wir „vor einer Epoche nachhaltiger Entgeltsteigerungen“ stehen. „Weil der Fachkräftemangel von Jahr zu Jahr den Faktor Arbeit weiter verknappen wird. Weil unsere Entgelte im Ringen um die besten Köpfe international nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Weil Digitalisierung und KI richtig eingesetzt die Produktivität der Beschäftigten und damit ihren Anspruch auf Teilhabe deutlich erhöhen werden. Und weil volkswirtschaftlich die Bedeutung der Binnennachfrage und damit der Entgelte wachsen wird.“

Unsere Benchmarks bei den Löhnen könnten nicht China oder Indien sein, unsere Benchmarks müssten unsere Nachbarn Schweiz oder Dänemark sein, so Vassiliadis. Er betont: „Deutschland muss Hochlohnland werden. Nur so lassen sich Innovationskraft und Wohlstand erhalten.“

Ähnlich sieht das auch Betriebsrat Schätz. Generell müsse sich vor allem bei handwerklichen und technischen Berufen einiges tun, um sie attraktiver zu machen. „Jemand, der in Computer tippt, hat nicht automatisch 500 Euro mehr verdient.“

Die Fachkräfte stehen nicht auf der Straße und warten bis wir kommen.

Thomas Lang,
Betriebsratsvorsitzender
bei Iprotec

Die Unternehmen müssen also mehr tun für die bestehende Belegschaft und für die Beschäftigten in spe – schon aus Eigeninteresse. Schon heute wirken sich die Engpässe auf die wirtschaftliche Situation der Betriebe aus. 62 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass sich der Fachkräftemangel ihrem Eindruck nach zur Wachstumsbremse für ihre Branche entwickelt. Auf den eigenen Betrieb bezogen ist man nicht wirklich optimistischer: 61 Prozent geben an, dass der Fachkräftemangel sich zu einer Wachstumsbremse für ihren Betrieb entwickelt.

Immer häufiger geht es deshalb im tarif- und wirtschaftspolitischen Tagesgeschäft der IGBCE um diese Fragen: Wie können Betriebe und Branchen attraktiver für Beschäftigte werden und was kann man tun, um bestehendes Know-how zu halten. Das beginnt bei überdurchschnittlichen Entgeltzuwächsen bei den Auszubildenden und hört bei Initiativen zur Fachkräftesicherung nicht auf. Mit den Chemie-Arbeitgebern hat die IGBCE beispielsweise beim Tarifabschluss im Sommer die Schaffung eines „Fachkräfteradars“ vereinbart. Mit ihm sollen Beschäftigte, deren Arbeitsplatz durch Jobabbau oder Standortschließungen gefährdet ist, innerhalb der Branche weitervermittelt werden. Das hilft, Arbeitslosigkeit zu vermeiden und Fachkräfte in der Branche zu ­halten.

Potenziale besser ausschöpfen

Gemeinsam mit dem vfa, dem Verband der forschenden Pharma-Unternehmen, hat die IGBCE ein Positionspapier erarbeitet, dass Ansatzpunkte zur Fachkräftesuche und -sicherung in dieser Wachstumsbranche identifiziert. Dabei geht es vor allem darum, vorhandene Fachkräftepotenziale besser auszuschöpfen und Gute Arbeit zu stärken, beispielsweise durch die Rückführung in vollzeitnahe Teilzeit nach Elternzeit oder durch die Flexibilisierung von Schichtmodellen. Zweitens sollen die Produktivität gesteigert und die Weiterqualifikation in den Mittelpunkt gestellt werden, unter anderem durch KI und Digitalstrategien. Dritter zentraler Punkt ist es, Fachkräfte aus dem Ausland zu gewinnen und die eigene Ausbildung zu stärken durch schnellere Visavergabe und eine zentrale Beratungsstelle für Unternehmen.