Schicht, aber gut
Die Beschäftigten in der Produktion beim Hygienepapierhersteller Essity in Neuss halten rund um die Uhr den Laden am Laufen. Kein Homeoffice, keine Gleitzeit, dafür Wochenenddienste und Gesundheitsrisiken durch Schichtarbeit – und trotzdem zufrieden? Geht das?
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Zwischen Toilettenpapier und Taschentüchern herrscht reger Betrieb, Gabelstapler düsen hierhin und dorthin. Im Rückwärtsgang bei voller Beladung. Vorwärts, wenn es zur nächsten Palette geht. „Immer schön hupen!“, so erklärt Mario Leifert die wichtigste Regel, um bei den wilden Manövern zwischen den haushohen Papierstapeln Karambolagen zu vermeiden. Der 66-Jährige wirkt in seinem Führerhaus so zufrieden wie ein Teenager beim Autoscooter.
Mario ist der Älteste im Team der Staplerfahrer bei Essity in Neuss, er arbeitet seit bald 35 Jahren für den Hersteller von Hygienepapieren. Vor gut anderthalb Jahren ist die Produktion von Markenware auf Handelsmarken umgestellt worden. Damals hatte die Belegschaft Sorge, der Standort könnte ins Hintertreffen geraten oder womöglich verkauft werden. Tatsächlich haben Inflation und neues Preisbewusstsein der Verbraucherinnen und Verbraucher die Handelsware aber zum Verkaufsschlager gemacht. Die vom Unternehmen orakelte Notwendigkeit, auf einen Rund-um-die-Uhr-Betrieb umzustellen, hat sich bewahrheitet.
Dadurch wurde eine Änderung des Schichtmodells nötig, und das ist – so kurios es klingen mag – der Grund, warum Mario nicht zu Hause bei Frau und Hund auf dem Sofa sitzt und das Rentnerleben genießt, sondern noch immer hupend durch die riesige Lagerhalle fährt. Der Nacken bereite ihm manchmal Probleme, sagt er. Aber das sei normal bei Staplerfahrern. Kein Wunder. Vorwärts, rückwärts, rundherum, Tag und Nacht. Zum Ausgleich fährt Mario Fahrrad. 30 Kilometer bis zur Arbeit und wieder zurück.
Auf Schicht bei Essity
Fünf-Schichten-Modell
Bis zur Umstellung der Produktion gab es bei Essity in Neuss ein kompliziertes Vier-Schichten-Modell auf Basis der 35-Stunden-Woche. Der Betriebsratsvorsitzende Ralf Kruska versucht, es zu erklären – und verliert dann selbst den Überblick. „Das kann man gar nicht verstehen, das war Kruschelmuschel“, sagt Mario. Seit Anfang 2023 wird nach einem Fünf-Schichten-Modell gearbeitet – und plötzlich ist es ganz einfach: zwei Tage Früh-, zwei Tage Spät-, zwei Tage Nachtschicht und vier Tage frei. Dann geht es von vorn los.
Dieses Modell ist an sich nicht neu. Aber in einer Betriebsvereinbarung wurde zudem festgelegt: Für 32,5 Stunden Arbeitszeit inklusive Pausen werden 35 Stunden bezahlt. Sogenannte Bringschichten gibt es nicht mehr, der Arbeitgeber kann also keine Extraschichten außerhalb des Rhythmus von seinen Angestellten einfordern. Und für leistungsgewandelte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, also Menschen, die nach Unfall oder Krankheit nicht mehr vollumfänglich in ihren Jobs arbeiten können, gibt es Möglichkeiten, ohne Nachtschicht oder in Teilzeit tätig zu sein.
„Das macht Spaß, da kann ich auch noch ein bisschen länger arbeiten“, sagt Mario. „Die Zeit vergeht wie im Flug, da merkst du gar nicht, dass du noch immer hier bist.“ Und: „Warum soll ich auf dem Sofa sitzen, wenn ich noch ein bisschen Geld verdienen und die Leute ärgern kann?“ Er schmunzelt. Sein Humor kommt an. Er entstammt einer aussterbenden Generation: bodenständig und verlässlich, im Job, seit er 18 Jahre alt ist, ohne Ausbildung („ich wollte direkt cash verdienen“), aber mit viel Einsatz und Disziplin Ernährer seiner Frau und der drei Kinder, heute Opa von fünf Enkeln. Er sagt: „Damals habe ich 3.500 Mark verdient und wir haben gelebt wie Gott in Frankreich.“
Wir hätten nicht gedacht, dass das solche Wellen schlägt.
Ralf Kruska,
Betriebsratsvorsitzender
Heute ist alles ein bisschen anders. Aber der dienstälteste Staplerfahrer von Essity ist eine Frohnatur mit bezauberndem Arbeiterhumor geblieben. Und nicht nur bei ihm findet das neue Fünf-Schichten-Modell Anklang. Der Betriebsrat wurde mit dem Sonderpreis für gute Schichtarbeit des Deutschen Betriebsrätepreises ausgezeichnet. „Wir hätten nicht gedacht, dass das solche Wellen schlägt“, sagt der Betriebsratsvorsitzende Ralf Kruska, der bis heute Anfragen von anderen Unternehmen erhält, die sich für das Modell samt Betriebsvereinbarung interessieren.
Schichtarbeit ist wahrlich kein Pluspunkt im härter werdenden Kampf um Arbeitskräfte und vor allem junge Fachkräfte, die heute vermehrt Wert auf Flexibilität, Homeoffice oder Teilzeitmöglichkeiten legen. Schichtarbeit gilt als ungesund für Körper und Geist, sie stört den Biorhythmus und das Sozialleben. Wer lange Jahre auf Schicht arbeitet, klagt häufiger über gesundheitliche Beschwerden und steigt früher aus dem Berufsleben aus. Zu diesem Schluss kommt die Hans-Böckler-Stiftung in einem Report: „Gravierende gesundheitliche Probleme und eine schlechte Work-Life-Balance mindern die Lebensqualität von Beschäftigten und führen zu (längeren) Erwerbsunterbrechungen beziehungsweise kürzeren Erwerbsverläufen.“ Allerdings sei das nicht zwangsläufig immer so, sondern hänge von der konkreten Ausgestaltung der Arbeitszeitmodelle ab.
2021 lag der Anteil der Erwerbstätigen, die Schichtarbeit leisten, laut Statista in Deutschland bei 14,7 Prozent. In vielen Branchen der IGBCE ist die Arbeit in Früh-, Spät- und Nachtschichten unvermeidbar, weil Produktionslinien nicht einfach gestoppt und Arbeitsabläufe nicht unterbrochen werden können.
Flexibilität an Wochentagen
Auch Ricardo Da Costa ist zufrieden mit den neuen Arbeitszeiten bei Essity. Er ist halb so alt wie Mario und seit 2019 im Betrieb. Als Operator bedient er die Anlagen in der Produktion. Er ist gelernter Dachdecker und kam als Quereinsteiger ins Unternehmen. Vorher hat er schon bei einem Süßigkeiten- und bei einem Limonadenproduzenten im Schichtdienst gearbeitet. Bei Essity wird er gerade an den neuen Anlagen zur Produktion von Küchenpapierrollen eingewiesen.
Zum Fünf-Schichten-Modell sagt Ricardo: „Ich gehe sechs Tage arbeiten und habe dann vier Tage frei“ – und findet, damit sei alles gesagt. Vorsichtshalber weist er noch auf einen weiteren Vorteil hin: „Ich muss nur sechs Tage Urlaub nehmen, um zwei Wochen freizuhaben.“ Klar, man müsse häufiger auch mal am Wochenende ran. Vor allem Kolleginnen und Kollegen mit Familie fänden das nicht so toll. Aber er genieße die Flexibilität an Wochentagen. Es sei schön, seinen elf Jahre alten Sohn auch mal unter der Woche von der Schule abholen zu können oder Zeit für Behördengänge und Erledigungen zu haben.
In der Produktionshalle für Toilettenpapier wird schnell klar, warum man bei Essity an verschiedenen Wänden auf kleine Selbstbedienungskästen mit Ohrstöpseln stößt. Es ist laut. Und staubig. Beständig rieseln feine Papierflocken durch die Luft. Die Grundlage für die Toilettenpapierrollen, Watte nennen das die Kundigen, kommt auf riesigen Rollen aus der betriebseigenen Papierfabrik. Das Material wird geprägt, gestanzt, aufgerollt, geschnitten und verpackt. Alles passiert vollautomatisch. Operatorinnen oder Operatoren wie Ricardo müssen die richtigen Knöpfe drücken, Material nachfüllen und Qualitätskontrollen durchführen. Am Ende werden die Großpackungen mit Toilettenpapier auf Paletten gestapelt und Mario und seine Kollegen holen sie mit ihren Staplern ab.
Entspannung bieten die (bezahlten!) Pausen in der Kantine. Dort wirkt ein eigener Koch mit seinem Team, besonders beliebt sind der Mittwoch, Schnitzel-und-Pommes-Tag, und der Currywurst-Samstag. Wer um sechs Uhr morgens mit dem Dienst beginnt, kann um zehn Uhr gut eine herzhafte Mahlzeit vertragen. Auf dem Weg zur Essensausgabe kommt man an einer Vitrine vorbei, darin ausgestellt: der Betriebsrätepreis, ein Aufsteller aus dickem Plexiglas. Passt irgendwie: schlicht – aber bedeutend.
Der Betriebsratsvorsitzende Ralf Kruska und sein Kollege Gregor Fiebig werden überall freundlich begrüßt. Man habe vor der Umstellung nur sechs Monate Zeit gehabt und „sehr intensiv“ mit der Geschäftsführung verhandelt, erzählt Ralf. Die oberste Prämisse sei nach Rücksprache mit den Kolleginnen und Kollegen gewesen: „Entlastung und kein Verlust an Geld.“ Das stärkste Argument gegenüber dem Unternehmen: „Wenn ich attraktiv sein will für junge Leute, muss ich auch mal in den sauren Apfel beißen.“ Denn Arbeitskräfte, vor allem Fachkräfte, werden angesichts des Generationenwechsels auch bei Essity immer knapper.
Krankenstand gesenkt
Nach gut einem Jahr mit dem neuen Modell ist der Essity-Betriebsrat hochzufrieden: Die Ergebnisse seiner Verhandlungen fruchten, es sind alle offenen Stellen besetzt. Manch junge Kollegin oder junger Kollege habe sich explizit wegen des Schichtmodells für den Job entschieden, berichtet Kruska. Und der Krankenstand sank von dreizehn auf acht Prozent. „Wir haben dieses Schichtmodell nicht erfunden“, sagt er, „aber wir haben mit unserer Betriebsvereinbarung das Beste daraus gemacht.“ Inzwischen sei auch ein Großteil jener Kolleginnen und Kollegen überzeugt, die am Anfang noch skeptisch waren. Und Gabelstaplerfahrer Mario will noch ein bis anderthalb weitere Jahre dabeibleiben.