Wehrhaft für die Demokratie
Im September wählen Thüringen, Sachsen und Brandenburg ihre Parlamente. Die Stimmung ist aufgeheizt, Umfragen deuten auf einen deutlichen Rechtsruck hin. Wir haben drei IGBCE-Mitglieder besucht, die sich der Entwicklung entgegenstellen und selbst für den Landtag kandidieren.
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Ich bin Herzblutpolitikerin. Mir macht die Arbeit Spaß und ich schöpfe Kraft daraus.
Kristin Kentsch,
Kandidatin für den Sächsischen Landtag
Kristin Kentsch lebt dort, wo andere wegziehen. Sie sitzt in ihrer 2,5-Zimmer-Wohnung in der sächsischen Stadt Hoyerswerda. Ein Plattenbau. „Du drehst dich im Bad einmal um und kommst überall ran. Das ist charmant“, sagt die 38-Jährige. Es ist Kentschs dritte Wohnung im DDR-Baustil. Aus den ersten zwei musste sie raus. Abriss. Vielen sind die Zimmer in der Platte, so der landläufige Name, zu klein. Sie kehren ihr den Rücken zu.
Das gilt für Hoyerswerda im Allgemeinen. Die Stadt gehört zu den am stärksten schrumpfenden Kommunen Deutschlands. Trotzdem spricht Kentsch von Aufbruch statt Umbruch.
„Ich stehe für eine progressive Politik“, sagt sie. Mit dieser Haltung möchte sie am 1. September das Direktmandat für Hoyerswerda bei der Wahl des Sächsischen Landtags gewinnen. Genauer gesagt für den Wahlkreis 55, zu dem auch die Gemeinden Lohsa, Lauta und Elsterheide gehören. Aussicht auf Erfolg hat sie kaum: Bei der letzten Landtagswahl erhielt die SPD, für die sie antritt, 6,4 Prozent der Direktstimmen. Die AfD gewann das Direktmandat mit über 31 Prozent. Vermutlich fällt der Wahlsieg der rechtspopulistischen Partei in diesem Jahr noch höher aus.
Um das zu verhindern, ist Kentsch viel unterwegs. Jeden Samstag steht sie am Wahlkampfstand auf dem Markt. Unter der Woche geht sie mit Flyern von Tür zu Tür oder teilt Frühstückstüten an Pendlerinnen und Pendler am Bahnhof aus. „Du musst mit den Menschen reden, ihnen zuhören und sie respektieren.“ Trotz aller Anfeindungen. „Manche wollen einfach ihren Missmut kundtun. Bei mir können sie Dampf ablassen. Besser so, als wenn sie das in der Wahlkabine tun“, sagt Kentsch. Die meisten seien weder ausländerfeindlich noch Nazis. Allein geht die junge Frau jedoch nicht mehr auf Wahlkampftour. Ein Genosse oder eine Genossin ist immer mit dabei. Vorsichtshalber haben die Politikerin und ihr Wahlkampfteam zwei Selbstverteidigungskurse belegt. Aus dem Vorfall von Dresden Anfang Mai, bei dem der sächsische SPD-Spitzenkandidat für die Europawahl, Matthias Ecke, beim Plakatieren angegriffen und schwer verletzt wurde, hat man seine Schlüsse gezogen.
Mit Kristin Kentsch im Wahlkampf:
Für den Wunsch nach einer offenen, toleranten Gesellschaft riskiert Kentsch nicht nur ihre Sicherheit. Sie investiert auch viel Zeit und Geld. Wegen des Wahlkampfs hat die Projektcontrollerin ihre Stelle beim örtlichen Energiekonzern LEAG halbiert. Eine Freistellung für den Betriebsrat, dem sie seit zwei Jahren angehört, lehnte sie ab. Auch ihr gewerkschaftliches Engagement unter anderem in den Bildungsarbeitskreisen der IGBCE auf Bezirks- und Bundesebene fährt sie herunter. „Ich bin Herzblutpolitikerin“, sagt Kentsch, die jüngst auch für den Stadtrat kandidiert hat. „Mir macht die Arbeit Spaß und ich schöpfe Kraft daraus.“
Dabei kam sie erst spät zur Politik: 2018 trat sie in die SPD ein. Kentsch unterstützte die Große Koalition und ihre Pläne, den Kohleausstieg auf 2038 zu legen. Ein früherer Stopp, wie von den Grünen gefordert, sei „Wunschdenken“.
Hoyerswerda ist eng mit der Braunkohle verbunden. Wenige Kilometer von der Stadt entfernt liegt das ehemalige Kombinat Schwarze Pumpe. Hier wurde die Lausitzer Braunkohle unter anderem in Gas und Koks umgewandelt. Mit Baubeginn Mitte der 1950er-Jahre zogen viele Arbeitskräfte in die einst beschaulichen Kleinstädte der Niederlausitz, insbesondere nach Hoyerswerda. Auch Kentschs Großvater kam. „Damals gab es nicht mal befestigte Straßen“, erzählt sie. „Mein Opa hat die Stadt ein bisschen mit aufgebaut.“
Nun packt die Enkelin im Strukturwandel an und setzt sich vor allem für Frauen ein. „Wir müssen uns als Region neu erfinden, nicht mehr und nicht weniger“, sagt Kentsch. Damit die Politikerin eines Tages dort lebt, wo andere hinwollen.
Ich wäre beinahe durchs Raster gefallen.
Maximilian Reichel-Schindler,
Kandidat für den Thüringer Landtag
Wenn Maximilian Reichel-Schindler spricht, fallen Begriffe wie „Business-Administration“, „Employer-Branding“ und „Change-Management“. Die Vokabeln aus den Chefetagen spiegeln seine Aufsteigergeschichte wider: Der 27-Jährige ist der Erste in seiner Familie mit Abitur. Nach Schule und Auslandsjahr studierte er Betriebswirtschaftslehre. Jetzt arbeitet er in der Personalabteilung beim Netzbetreiber 50 Hertz, wo er Führungskräfte betreut.
Reichel-Schindler kennt beide Seiten der Gesellschaft – die aufsteigende und die abgehängte. „Ich wäre beinahe selbst durchs Raster gefallen“, sagt er. Seine Mutter war 16 Jahre alt, als er zur Welt kam. Geldnot war in seiner Kindheit ein Dauerthema. „Das prägt, wenn man nicht in den Urlaub fahren kann. Ich fühlte mich abgehängt. Bildung war mein Ausweg.“
Und sein Einstieg in die Politik. Vom Klassensprecher über den Vorsitz der Landesschülervertretung hat es Reichel-Schindler bis zum Direktkandidaten für die Thüringer Landtagswahl geschafft. Sein zentrales Thema: Bildungsgerechtigkeit. Noch immer hängt der Schulabschluss stark vom Elternhaus ab. Drei Viertel der Kinder aus privilegierten Familien erhalten eine Empfehlung für das Gymnasium, in ärmeren Haushalten sind es weniger als ein Drittel.
Für die Wahl am 1. September kandidiert Reichel-Schindler für die SPD. Über die Partei hat er 2020 den Weg in die IGBCE gefunden. „Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft gehört für mich zum Parteibuch dazu. Wir müssen uns darauf besinnen, woher wir Sozialdemokratinnen und -demokraten kommen, und uns gemeinsam für gute Arbeit und faire Entlohnung einsetzen“, sagt er.
Rational ist es nicht erklärbar, warum Menschen die AfD wählen.
Maximilian Reichel-Schindler
Sein Wahlkreis ist der südliche Teil des Ilm-Kreises. Zum gesamten Landkreis gehören die Universitätsstadt Ilmenau und das größte Industriegebiet Thüringens, das Erfurter Kreuz. Rund 110 Firmen sind hier ansässig; 15.000 Beschäftigte stellen unter anderem Batteriezellen und klimaneutrale Baustoffe her. Die Region zählt zu den innovativsten und wirtschaftsstärksten Standorten im Osten Deutschlands – auch dank der Zuwanderung: Etwa ein Viertel der Ingenieurinnen und Ingenieure, die am Erfurter Kreuz arbeiten, stammen aus dem Ausland. Trotzdem hat die AfD die Kreistagswahl im Mai mit großem Vorsprung gewonnen. Der Kandidat des rechtsextremen Landesverbands erreichte die Stichwahl um den Landratsposten, die er dann gegen die parteilose Amtsinhaberin verlor.
„Rational ist es nicht erklärbar, warum Menschen die AfD wählen. Das Problem liegt in der Kommunikation“, sagt Reichel-Schindler. Vielen sei nicht klar, dass sie mit einem Kreuz bei der Alternative für Deutschland gegen ihre Interessen stimmen. Auch Politikverdrossenheit spiele eine große Rolle. „Man muss viel erklären, darf aber niemandem über den Mund fahren“, sagt der junge Mann, der einst Lehrer werden wollte. Zuhören sieht er als eine seiner Hauptaufgaben.
Persönliche Anfeindungen hat Reichel-Schindler im Wahlkampf bisher keine erfahren. Das mag an seiner Größe liegen, an der sportlichen Statur des ehemaligen Amateurschiedsrichters oder an der Ortskenntnis. „Ich weiß, wo ich hingehen kann“, sagt der Thüringer, der seit seiner Geburt im Ilm-Kreis wohnt. „Auf bestimmten Dorfpartys werde ich mich nicht blicken lassen. Gedankenlos sein geht nicht.“
Einschüchtern lässt er sich nicht, auch wenn seine Chancen auf das Direktmandat gering sind. Berufspolitiker möchte er eh nicht lange sein. Ihm geht es um etwas anderes, etwas Historisches: „Wenn es schiefgeht mit der Demokratie, will ich nicht zu denjenigen gehören, die gesagt haben, dass das schon irgendwie wieder wird.“
Politik und Gewerkschaftsarbeit funktionieren auf vielen Ebenen gleich.
Lars Katzmarek,
Kandidat für den Brandenburger Landtag
Das Schlaglicht der Öffentlichkeit fällt immer wieder auf Menschen, die nicht die große Bühne suchen, sondern einfach ihr Ding machen. Etwa einen Rap-Song über die Zukunft der Lausitz verfassen.
Nachdem Lars Katzmarek vor knapp drei Jahren sein Lied „Unsere Perspektive“ veröffentlicht hatte, riefen im Stundentakt die Medien bei ihm an. Er war in der „Tagesschau“ und im ZDF, sogar das US-Magazin „The New Yorker“ berichtete. Dabei war der Song eigentlich nur für den Zukunftstag des Energieversorgers LEAG gedacht, wo Katzmarek seit seiner Ausbildung zum Mechatroniker arbeitet.
Das, was in seinem Lied auf so viel Zuspruch stößt – sichere Arbeitsplätze, bessere Infrastruktur, mehr Fördermittel für die Lausitz –, möchte der 32-Jährige nun selbst umsetzen: „Vom Fordern ins Gestalten kommen.“ Deswegen kandidiert er für den Brandenburger Landtag. Die SPD hat ihn für die Wahl am 22. September als einen von zwei Direktkandidaten in Cottbus aufgestellt. Bei der letzten Landtagswahl landeten die Sozialdemokraten dort knapp hinter der AfD.
Katzmarek ist seit 2019 in der SPD. Ausschlaggebend für seine Ernennung zum Spitzenkandidaten dürften zwei Gründe gewesen sein: zum einen seine überregionale Bekanntheit, zum anderen seine Gewerkschaftsarbeit. Seit der Ausbildung engagiert sich der junge Mann für die IGBCE. Er war Teil des Bundesjugendausschusses und ist Mitglied der Tarifkommission sowie des Betriebsrats bei der LEAG. Außerdem wurde er zum Revierbotschafter der Lausitz ernannt. Die Position ist Teil des Projekts Revierwende des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), das den Strukturwandel in den vier größten Kohleregionen Deutschlands unterstützt.
Lars Katzmarek: „Unsere Perspektive“
Katzmarek sieht sich als politischen Quereinsteiger, aber nicht als Neuling: „Politik und Gewerkschaftsarbeit funktionieren auf vielen Ebenen gleich. In den Ausschüssen habe ich gelernt, wie überregionale Zusammenarbeit funktioniert und ein vernünftiger Interessenausgleich stattfindet. Das schafft ein klares Demokratieverständnis.“
Dieses trägt er nun in seinen Wahlkreis im Südwesten von Cottbus. Auf der Straße wurde Katzmarek bereits als „Volksverräter“ beschimpft. „Aber nur, weil es schwierig ist, heißt das nicht, dass man aufhört. Das wäre feige.“ Zumal die Schimpftiraden vor allem Ausdruck von Überforderung und Angst seien. Katzmarek müsse immer wieder erklären, dass die Regierung im Zuge der Energiewende niemanden enteignen möchte. „Zuhören und aufklären, wie demokratische Prozesse funktionieren, damit kann man viele wieder zurückholen.“
Gleichzeitig gibt es verfestigte rechtsextreme Strukturen in der Stadt. Doch Katzmarek fokussiert sich im Wahlkampf vor allem auf positive Aspekte: Vor der Stadt wird am größten Werk der Deutschen Bahn gebaut. 1.200 Industriearbeitsplätze sollen entstehen. Im Nordwesten wird mit dem Science Park eine Innovationslandschaft mit internationaler Strahlkraft geschaffen. Auf dem Cottbuser Ostsee, einem gefluteten Tagebaugelände, soll Deutschlands größtes schwimmendes Sonnenkraftwerk entstehen und den Energiebedarf von rund 8.250 Haushalten decken.
Um das Schlaglicht stärker auf diese Entwicklungen im Strukturwandel zu lenken, hat Katzmarek den Song „Die Wüste lebt“ verfasst. Die Resonanz ist enorm positiv. Nun hofft er, die Begeisterung in die Wahlkabine tragen zu können.