Arbeit & Gesellschaft

Kompass

„Wir haben zu
viele Regeln“

Text Inken Hägermann – Illustration Eugen Schulz

Wie sieht die Zukunft für die heimische Chemiebranche aus? Im aktuellen Kompass-Talk sprechen der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis und Markus Steilemann, Präsident des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), über „Herausforderungen und Zukunftsperspektiven der Chemieindustrie in Deutschland und Europa“.

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Herr Steilemann, im Rahmen der Halbjahresbilanz des VCI sprachen Sie kürzlich von einem „Silberstreif“ für die deutsche Chemie. Hat damit die zuletzt gebeutelte Branche das Tal der Tränen durchschritten?

Markus Steilemann: Ich glaube, dass eine Erholung eingesetzt hat, aber wir sehen leider noch keinen stabilen Aufwärtstrend. Wir verzeichnen weiterhin eine geringe Auslastung in der Chemieindustrie, die aus einem Auftragsmangel bei unseren Kundenindustrien herrührt, was sich dann auch bei uns niederschlägt. Gleichzeitig kämpfen wir weiterhin mit den Standortfaktoren, vor allem mit hohen Kosten und einer überbordenden Bürokratie.

Foto: Covestro AG

Markus Steilemann, geboren 1970, ist seit September 2022 Präsident des deutschen Branchenverbands der Chemischen Industrie (VCI) und seit Juni 2018 Vorstandsvorsitzender des Polymerherstellers Covestro. Der promovierte Chemiker studierte an der RWTH Aachen sowie an der ETH Zürich. 1999 begann Steilemann seine berufliche Karriere beim Bayer-Konzern. Dort bekleidete er mehrere Führungspositionen im Geschäftsbereich Polycarbonates, bevor er 2015 in den Vorstand von Covestro – der Nachfolgeorganisation von Bayer Material Science – berufen wurde.

Michael, wie bewertest du das aus Sicht der Beschäftigten?

Michael Vassiliadis: Der hohe Energiepreis der vergangenen Jahre hat besonders starke Auswirkungen in den energieintensiven Industrien gezeigt, zu denen auch die Chemie gehört. Parallel laufen große Transformationsvorhaben, und es gibt brennende Infrastrukturprobleme, die gelöst werden müssen. Zum anderen ist die Industrie seit zwei Jahren durch das globale Nachfragethema belastet. Chinas Wirtschaft liegt weit hinter den durchschnittlichen Wachstumsraten der vergangenen Jahre und Jahrzehnte. Wenn da ein halbes oder ganzes Prozent fehlt, schlägt das voll durch auf die ­Weltwirtschaft.

Was bedeutet das für Europa und Deutschland?

Vassiliadis: Wenn sich das Wirtschaftswachstum in China auf Dauer niedriger einpendelt, müssen wir nun abwägen, ob wir die europäische Produktion stärker für den europäischen Markt planen müssen und nicht mehr so eine Größenordnung wie früher in den Rest der Welt exportieren, also die Produktionsmengen anpassen. Eine zweite Frage ist: Wann investieren wir endlich europaweit in die Infrastruktur und die Netze, um uns zukunftsfit zu machen, wann digitalisieren wir mehr, wann modernisieren wir den Standort Europa? Da ist mir die Debatte viel zu konservativ.

Wo siehst du Probleme für die ­Wirtschaft und das Land?

Vassiliadis: Die teils überbordenden Dokumentationspflichten für die Industrie sind schon belastend: Da produzieren die Betriebe massenweise Berichte, die niemals jemand lesen wird. Außerdem leiden wir unter der schrecklichen ­Untugend, alles gleichzeitig erledigen zu wollen. Wir brauchen endlich eine Priorisierung, eine Reihenfolge, wann wir was erledigen und regulieren wollen. Nehmen wir die grüne Transformation als Beispiel: Wenn man entscheidet, CO2-Reduktion ist uns am wichtigsten, machen wir das als Erstes, wenn man sich für die Elektrifizierung entscheidet, hat das Priorität. Dann lassen wir eben andere Sachen ein paar Jahre liegen. Ein bisschen mehr Pragmatismus an dieser Stelle wäre sehr wünschenswert. Wenn wir alle Probleme kombinieren und gleichzeitig angehen, können wir relativ sicher sein, dass das schwierig wird.

Auf europäischer Ebene zu denken, ist ein wichtiger Ansatz.

Markus Steilemann,
VCI-Präsident

Herr Steilemann, wie sehen Sie das?

Steilemann: Genauso: Wir müssen priorisieren. Wichtig ist, dass man sich ein Thema konkret vornimmt und vom Ende her denkt. Was ist das Ziel, was muss man heute machen, um es zu erreichen, wo muss man investieren, welche Regularien abschaffen oder ergänzen und so weiter? Wenn wir selbstbewusst und pragmatisch vorgehen wollen, würde es sich zudem empfehlen, viele der akuten Probleme direkt auf europäischer Ebene zu adressieren. Nationalstaaten sind bei den Themen, die wir zu lösen haben, nicht wirkmächtig genug und einfach zu klein. Auf europäischer Ebene zu denken, ist deshalb ein wichtiger Ansatz.

Sie haben eben das Thema Bürokratieabbau bereits angesprochen. Was stört die Betriebe am meisten?

Steilemann: Bürokratie ist nicht per se gut oder schlecht, sie ist zum Beispiel gut, weil man dann weiß, wie Dinge laufen. Regulierungen können aber gut oder schlecht gemacht sein. In den vergangenen Jahren ist die Entwicklung leider in Richtung Feinstreifigkeit gegangen, eine fast schon übergriffige Regulatorik, die in den betrieblichen Alltag und den Alltag der Menschen eingreift. Wir haben zu viele Regeln wie etwa die bereits erwähnten überbordenden Berichtspflichten. Oder das Lieferkettengesetz, in dem die Einhaltung der Menschenrechte auf Unternehmen abgewälzt wird. Also etwas, was Staaten und internationale Organisationen seit Jahrzehnten nicht geschafft haben, in Verträgen zu regeln. Das sind Auswüchse, die in die falsche Richtung gehen: Sie bedeuten Mehrarbeit für die Unternehmen, helfen aber nicht dabei, wettbewerbsfähiger zu werden, mehr zu verkaufen oder die Standortkosten zu senken.

Vassiliadis: Wenn bei Regulierungen die Faktoren Zeit, Vernunft und Innovationsfähigkeit beachtet werden, kann das durchaus ein Treiber für die Wirtschaft sein. Nur gehen wir schon seit geraumer Zeit anders damit um: Wir haben Ziele unabhängig von der Innovation politisiert. Zudem haben wir in Deutschland und der EU bei Abwägungen vor allem Risiken im Blick, da sind wir im globalen Vergleich weit vorn. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: die europäischen Regelungen rund um Pflanzenschutzmittel. Idealerweise bräuchten wir gar keine Pflanzenschutzmittel da hält sich nur die Natur nicht dran. Wenn man aber ein Ernährungsproblem in der Welt hat, das zu lösen ist, dann muss man das Ernährungsproblem und die Risiken von Pflanzenschutz gegeneinander abwägen. Man kann ja trotzdem fordern, dass Pflanzenschutzmittel sicherer werden. Das ist im Übrigen passiert, die heutigen Produkte sind nicht mit denen aus den 1960er-­Jahren vergleichbar. Da liegen Welten dazwischen. Ich bin in Dormagen am Rhein aufgewachsen. Ich wäre 1971 im Traum nicht auf die Idee gekommen, auch nur meinen Fuß in den Rhein zu halten, niemand hätte das getan heute angeln wir da. Diese Veränderungen und Erfolge werden aber nur sehr selten thematisiert. Wir problematisieren lieber.

Michael Vassiliadis, Moderatorin Regina Karsch und Markus Steilemann im Kompass-Talk.

Foto: Inken Hägermann

Da die Politik nicht so recht vorankommt müsste sich die Industrie mehr einmischen?

Steilemann: Ich habe den Eindruck, dass die Industrie in den vergangenen Jahren bereits häufiger ihre politische Stimme erhoben hat. Wir als chemische Industrie stellen sehr konkrete Forderungen, übrigens häufig im Einklang mit den Gewerkschaften. Und es gibt nach wie vor sehr gute Technologien und führende Unternehmen hier in Deutschland, die weltweit erfolgreich sind. Ich muss außerdem hinzufügen: Man kann an der derzeitigen Regierung vieles kritisieren. Aber man sollte nicht vergessen, dass die heutigen Rahmenbedingungen vor allem auf Maßnahmen der Vorgängerregierungen ­zurückzuführen sind.

Vassiliadis: Die Ampel hat natürlich viel zu tun mit ihren internen Streitigkeiten, und die Leute finden das angesichts der Weltlage teils zum Kopfschütteln. Wenn man aber mal sachlich draufschaut, sind sie um einiges weiter gekommen als viele Regierungen zuvor. Der Leitungsausbau ist ja nicht plötzlich in den letzten vier Wochen zum Erliegen gekommen, das ist in den eineinhalb Jahrzehnten davor verbockt worden. Da ging es uns insgesamt besser, wir hatten überall Puffer – deswegen merkte man das einfach nicht so. Jetzt haben wir Krieg, keine Puffer und kein Geld mehr, und dann kommt noch ein sehr restriktives Urteil des Bundesverfassungsgerichts dazu, das die Finanzierung vieler ambitionierter Zukunftsprojekte torpediert hat. Wenn ich mir nun die Alternativvorschläge zur Transformation anschaue, habe ich das Gefühl, dass die aus dem Permafrost geholt worden sind, das habe ich 1980 schon gehört. Diese Ideen bieten erst recht keine Antworten auf diese fundamentalen Herausforderungen unserer Zeit.

Die Innovationskraft in Deutschland ist immer noch hoch, wie wir bei der Entwicklung von Corona-Impfstoffen gesehen haben.

Markus Steilemann,
VCI-Präsident

Schauen wir in die Zukunft: Wo ­liegen unsere Potenziale? Was machen wir in Deutschland besser als im Rest der Welt?

Steilemann: Die Innovationskraft in Deutschland ist immer noch hoch, wie wir bei der Entwicklung von Corona-Impfstoffen gesehen haben, Stichwort Biontech. In der Spezialchemie und der Pharmaindustrie verfügen wir über ein weltweit einzigartiges Wissen und hochinnovative Netzwerke von der universitären Grundlagenforschung bis zur anwendungsorientierten Kundenprojektentwicklung. Es gibt ein stark ausgeprägtes Qualitätsdenken sowie die Einbettung von Nachhaltigkeit, nicht zu vergessen unsere Wertschöpfungsketten. Dazu kommt unser duales Ausbildungssystem und unsere hoch- und höchstqualifizierten Fachkräfte in den Betrieben, um die wir in anderen Ländern beneidet werden. Sie sind zentraler Baustein an der Schnittstelle von Grundlagenforschung an den Universitäten zur industriellen Verwertung. Das bietet alles weiterhin Chancen und Wachstumsmöglichkeiten, die die Industrie auch ergreift.

Vassiliadis: Am besten ist die deutsche Industrie dort, wo Kompetenzen verbunden werden, wo wissenschaftliche Erkenntnisse oder Innovationen aus der Universität in eine industrielle Anwendung übertragen werden. Ein zweiter Punkt, der gern vergessen wird: Wir sind nicht schlechter geworden, die anderen sind einfach besser geworden. Ich möchte eines noch betonen, weil wir anfangs sehr kritisch waren: Hier ist ganz viel in Deutschland, das gut funktioniert. Trotz unserer Probleme ist das ein ziemlich cooles Land, wir haben einen ziemlich coolen Sozialstaat, wir haben ziemlich gute Tarifverträge, wir haben gute Arbeit, gute Leute und gute Unternehmen. Das bedeutet nicht automatisch Erfolg und eine goldene Zukunft. Aber die Bedingungen sind alle da. Damit das so bleibt, muss jetzt allerdings einiges passieren.

IGBCE Kompass: Den neuen Polit-Talk mit Michael Vassiliadis und Gast kannst du in voller Länge nicht nur in der digitalen Ausgabe dieses Magazins sehen und hören, sondern auch über die „Meine IGBCE“-App, im Web bei igbce.de sowie auf dem Youtube-Kanal deiner Gewerkschaft und auf allen gängigen Podcast-Plattformen. Dort lässt er sich auch leicht abonnieren.