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Text Isabel Niesmann

Sahnehäubchen für IGBCE-Mitglieder im Chemie-Tarif: Ihnen steht künftig ein freier Tag mehr im Jahr zu – ein überfälliges Zeichen der Wertschätzung gewerkschaftlichen Engagements.

Ein freier Tag exklusiv für IGBCE-Mitglieder und insgesamt 6,85 Prozent mehr Entgelt: In der Chemie-Tarifrunde 2024 hat die IGBCE ein neues Kapitel in der Tarifpolitik aufgeschlagen und viel für die Beschäftigten herausgeholt.

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Einigung kurz vor Ablauf der Friedenspflicht (v. l.): Matthias Bürk (BAVC-Verhandlungsführer), Michael Vassiliadis (IGBCE-Vorsitzender), Katja Scharpwinkel (BAVC-Präsidentin), Oliver Heinrich (IGBCE-Verhandlungsführer).

Foto: Andreas Reeg

Letzte Ausfahrt: Bad Breisig“ – mit dieser Aufschrift auf der Rückseite ihrer schwarzen T-Shirts hatten Demonstrierende im Chemiepark Höchst am Vortag den Ton gesetzt für die dritte Runde der Chemie-Tarifverhandlungen Ende Juni 2024. Denn wenig später, am 30. Juni, endete die Friedenspflicht für die Branche in Bad Breisig war also die letzte Chance, innerhalb dieser Frist zu einem Abschluss für die 585.000 Beschäftigten der Chemie-Industrie zu kommen. Unter diesen Vorzeichen machten sich die Tarifkommissionen von IGBCE und Arbeitgeberverband BAVC in einer langen Nachtsitzung daran, eine Einigung zu finden.

Mit Erfolg: Denn am Ende stand ein Ergebnis, das sich sehen lassen kann. Nach langen und zähen Verhandlungen haben sich IGBCE und BAVC auf einen Tarifkompromiss geeinigt. Neben einem ordentlichen Entgeltplus von insgesamt 6,85 Prozent und einer grundlegenden Modernisierung des Bundesentgelttarifvertrags (BETV) setzte die IGBCE erstmals in einem großen Flächentarifvertrag einen Bonus exklusiv nur für tarifbeschäftigte IGBCE-Mitglieder durch: Sie haben ab 2025 einen zusätzlichen freien Tag pro Jahr, in Jahren mit Mitgliedsjubiläum sogar zwei.

Ein tarifpolitischer Meilenstein, der auch für andere Branchen Maßstäbe setzen wird: „Noch nie zuvor ist es einer Gewerkschaft in Deutschland gelungen, in einem so großen Flächentarifvertrag einen Mitgliedervorteil zu verhandeln! Damit haben wir einen Standard gesetzt, hinter den wir nicht mehr zurückgehen. Damit schlagen wir ein neues Kapitel in der Tarifpolitik auf“, konstatierte IGBCE-Verhandlungsführer Oliver Heinrich nach diesem hart errungenen Erfolg. Der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis machte mit Blick auf die Arbeitgeber deutlich: „Damit senden sie ein klares Zeichen der Wertschätzung an diejenigen Beschäftigten, die mit ihrem gewerkschaftlichen Engagement Tarifverträge erst möglich machen.“

Tarifabschluss in der Chemie

Deutliches Zeichen: Nur einen Tag vor der dritten Verhandlungsrunde machten die Beschäftigten im Industriepark Höchst noch einmal mächtig Druck.

Foto: Thorsten Jansen

Hart erkämpfter Abschluss

Der Weg zu diesem Tarifergebnis war kein leichter: Erst nach neun regionalen Runden und drei Bundesrunden mit zähen Diskussionen jeweils bis tief in die Nacht konnten sich IGBCE und BAVC in der dritten Runde einigen. Die IGBCE-Verhandlungsdelegation musste dabei viele Stunden mit einer Blockadehaltung der Arbeitgeberseite beim Thema Mitgliedervorteil ringen, auch bei der Entgelterhöhung lauteten die Signale lange: Es gibt nichts zu verteilen. Doch mit dem Rückenwind der mehr als 200 Tarifaktionen in der Woche vor der dritten Verhandlungsrunde konnten Verhandlungsführer Heinrich und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter langsam Bewegung in die Sache bringen. Heinrich betonte, wie wichtig die Aktionen gewesen seien, um Druck auf die Arbeitgeberseite aufzubauen. „Ohne die Unterstützung von Zehntausenden Beschäftigten, die in den vergangenen Wochen auf die Straße gegangen sind, wäre das nicht möglich gewesen.“ 50.000 Beschäftigte hatten sich im ganzen Land mit Fahnen, Transparenten und Pfeifen an Aktionen beteiligt.

­Sarah-Maria Eckrich, JAV-Mitglied bei BASF.

Foto: Andreas Reeg

Ingo Möller, Betriebsrat bei Bayer in Berlin

Foto: IGBCE | Paul Zinken

Sascha Held, Betriebsratsvorsitzender bei Merck

Foto: Andreas Reeg

Maria Schwarz, Betriebsratsvorsitzende bei B. Braun Pharma in Berlin

Foto: Andreas Reeg

„Ein toller Erfolg“

Positiv äußerten sich auch die Mitglieder der Bundestarifkommission: „Ich finde den Abschluss wirklich gut. Die fast sieben Prozent Entgeltplus sind ein starkes Zeichen. Und ich bin positiv überrascht, dass es tatsächlich geklappt hat, den Mitgliedervorteil durchzusetzen“, sagte etwa ­Sarah-Maria Eckrich, JAV-Mitglied bei BASF. Ingo Möller, Betriebsrat bei Bayer in Berlin, erklärte ebenfalls: „Ich bin zufrieden mit dem Abschluss. Im Quervergleich mit anderen Gewerkschaften kann sich das sehen lassen.“ Es sei „herausragend“, dass es endlich gelungen sei, einen Mitgliederbonus durchzusetzen. „Ein toller Erfolg.“ Auch Sascha Held, Betriebsratsvorsitzender bei Merck, lobte: „Ich bin zufrieden. Wir haben als erste Gewerkschaft im Land einen Mitgliederbonus in der Fläche durchgesetzt.“ Und Maria Schwarz, Betriebsratsvorsitzende bei B. Braun Pharma in Berlin, fand: „Angesichts der schweren Verhandlungssituation haben wir ein starkes Ergebnis erzielt. Und wir haben mit den vielen Aktionen in den vergangenen Wochen noch mal viel Dynamik in die Verhandlungen gebracht. Wir haben damit gezeigt, dass wir für unsere Ziele kämpfen. Zusammen haben IGBCE und Arbeitgeber unter Beweis gestellt, dass unsere Sozialpartnerschaft weiterhin einen hohen Wert hat.“

Talfahrt gestoppt

Entwicklung der Chemie-Reallöhne

Die Reallöhne beschreiben die Lohnentwicklung abzüglich der Teuerungsrate. Sie waren 2020 bis 2022 aufgrund hoher Inflationsraten gesunken. Dieser Trend dürfte sich, so die Inflationsprognosen eintreffen, in diesem Jahr wieder umkehren.

Quelle: eigene Berechnungen, Frühjahrsprognose Bundesregierung

Vergütungen steigen um insgesamt 6,85 Prozent

Für die Chemie-Beschäftigten springt beim Abschluss ein ordentliches Entgeltplus heraus. Ihre Vergütungen steigen in zwei Stufen: ab September 2024 um zwei Prozent und ab April 2025 um weitere 4,85 Prozent. Die Ausbildungsvergütungen werden analog erhöht.

Michael Vassiliadis hob hervor, dass die Chemie-Sozialpartner mit dem Ergebnis die Talfahrt bei den Reallöhnen stoppten (siehe Grafik). Die Einigung nutze „Kaufkraft und Binnenkonjunktur“. „Mit diesem Tarifabschluss nah an unserer Forderung geht es bei den Reallöhnen für die Chemie-Beschäftigten endlich wieder bergauf“, betonte Verhandlungsführer Heinrich. Um zu verhindern, dass die Beschäftigten ihre Kaufkraft verlieren, hatte die IGBCE eine Erhöhung der Entgelte um sieben Prozent gefordert – und fast eins zu eins durchgesetzt. Die Erhöhung der Entgelte um 6,85 Prozent kompensiert die Inflationsausgleichsprämie aus dem Tarifabschluss 2022, deren Wirkung nach Ende der Laufzeit des Tarifabschlusses von 2022 verpuffte. Heinrich betonte: „Wir sind auf gutem Weg, die ­Inflationskrise hinter uns zu lassen.“

Zusätzlich zu der Entgelterhöhung um zwei Prozent im September dieses Jahres haben Chemiebeschäftigte im Januar bereits die Entgelterhöhung von 3,25 Prozent und die steuerfreie Inflationsausgleichsprämie von 1.500 Euro aus dem vorherigen Tarifabschluss erhalten.

Pressestimmen

„Mitgliedervorteile bieten einen guten Anreiz, in der Gewerkschaft zu bleiben oder ihr beizutreten. Es wäre deshalb gut für alle, wenn sich möglichst viele Branchen die Kollegen von der Chemie zum ­Vorbild ­nähmen.“

Süddeutsche Zeitung

„Der zusätzliche Urlaubstag ist der Preis dafür, die auf Ausgleich bedachte Sozialpartnerschaft in der Chemiebranche zu erhalten. Und nur weil dort der Kompromiss seit jeher höher geschätzt wird als der Krawall, war eine solche Einigung ­überhaupt ­möglich.“

Handelsblatt

„Wer Mitglied der Gewerkschaft IGBCE ist, erhält künftig vom Arbeitgeber einen zusätzlichen freien Tag. Ein gewagter Ansatz – aber besser als das, was die Politik bisher in Sachen ­Tarifbindung anbietet.“

Frankfurter Allgemeine Zeitung

„Der Mitgliederbonus stärkt dieses Gefüge, weil er die Gewerkschaft IGBCE als wichtigen Bestandteil der Sozialpartnerschaft attraktiver macht. Das nützt diesem Miteinander mehr, als per Gesetz Unternehmen in Tarifverträge zu zwingen.“

Badische Zeitung

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Novum in der Chemieindustrie: freier Tag für IGBCE-Mitglieder

Wie schon in früheren Chemie-Tarifrunden ist es der IGBCE auch dieses Mal gelungen, mit dem exklusiven freien Tag nur für tarifbeschäftigte Mitglieder tarifpolitisches Neuland zu betreten. Zwar hatte die IGBCE schon zuvor in 167 Bereichen für insgesamt 118.000 Gewerkschaftsmitglieder Vorteile geregelt, vor allem in Haustarifverträgen und kleineren Flächentarifverträgen. In einem großen Flächentarifvertrag war das vor dem Chemie-Tarifabschluss 2024 aber nicht gelungen. Die von der IGBCE vereinbarten Vorteilsregelungen umfassen unter anderem Einmalzahlungen, freie Tage oder ein höheres Urlaubsgeld.

In der Chemieindustrie habe man am Ende „eine einfache Lösung ausgehandelt, deren Vorteil sich für die Menschen sofort erschließt und der die Betriebe nicht überfordert“, erklärte Heinrich. Verbunden ist die Vorteilsregelung mit einem klaren Bekenntnis der Arbeitgeber, sie ausschließlich auf IGBCE-Mitglieder anzuwenden. Mit dem Abschluss honoriere man „das Engagement der Gewerkschaftsmitglieder für die Sozialpartnerschaft“, sagte die Präsidentin der Chemie-Arbeitgeber, Katja Scharpwinkel, in einem Interview der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. In den Medien stieß die Regelung auf ein positives Echo (siehe Pressestimmen).

Den freien Tag erhalten alle nach Tarifvertrag beschäftigten aktiven Mitglieder, die länger als drei Monate in der IGBCE organisiert sind, als Ausgleich für ihr gewerkschaftliches Engagement. Sie können über den Tag frei verfügen. In Jahren mit Mitgliedsjubiläum bekommen sie einen weiteren freien Tag, also im Jahr des Jubiläums insgesamt zwei freie Tage. Jubiläen gibt es nach zehn, 25, 40 und 50 Jahren in der IGBCE. Mitglieder mit Jubiläen zum Beispiel 2023 oder 2024 haben allerdings rückwirkend keinen Anspruch auf den zweiten freien Tag.

Klares Votum: Die Bundestarifkommission Chemie stimmt nach einer langen Verhandlungsnacht für den Kompromiss.

Foto: Andreas Reeg

Bundesentgelttarifvertrag: Gespräche gehen weiter

Einiges erreicht, vieles aber noch offen: Da der Modernisierungsbedarf beim fast vierzig Jahre alten BETV enorm ist, haben IGBCE und Arbeitgeber im Rahmen der Tarifverhandlungen Ende Juni nicht über alle offenen Punkte verhandeln können. Stattdessen haben sich beide Seiten auf eine Verhandlungsverpflichtung geeinigt: In den kommenden Monaten werden IGBCE und Arbeitgeber Antworten auf die offenen Fragen zum BETV in einer technischen Kommission erarbeiten, bewerten und in den nächsten Tarifrunden anschließend einbringen. Teilweise kommen die Modernisierungserfordernisse von der Arbeitgeberseite, teilweise von der IGBCE.

In diesen kommenden Gesprächen ist es der IGBCE unter anderem wichtig, die Entgeltbedingungen für Akademikerinnen und Akademiker tariflich abzusichern. Denn viele außertariflich Beschäftigte (ATler) verdienen weniger, als wenn sie in der höchsten Stufe der Entgeltgruppe 13 eingruppiert wären, und haben zudem keinen Anspruch auf sonstige tarifliche Leistungen und tariflichen Schutz. Die IGBCE setzt sich daher für die Einführung von Mindestjahresbezügen für Akademikerinnen und Akademiker sowie außertariflich Beschäftigte ein, die sich mit der Berufspraxis weiterentwickeln.

Außerdem will die IGBCE beispielsweise die Durchlässigkeit im BETV erhöhen, denn für Beschäftigte im gewerblichen Bereich ist in der Regel mit der Entgeltgruppe 8 Schluss. Die Attraktivität und die Entwicklungschancen für Beschäftigte mit hoher Verantwortung insbesondere im Produktionsbereich müssen deshalb erhöht werden und die große Lücke zwischen den Entgeltgruppen 8 und 9 muss geschlossen werden. Der Unterschied in den Endsätzen beträgt aktuell bis zu 1.100 Euro im Monat.

Bereits geeinigt haben sich beide Seiten auf Regelungen zu Höhergruppierungen: Bislang war das Problem, dass eine Höhergruppierung nicht automatisch mehr Geld bedeutete, weil Beschäftigte in der höheren Entgeltgruppe immer auf der ersten oder zweiten Erfahrungsstufe einstiegen. Ab dem 1. ­September 2024 ist es nun so: Der oder die höhergruppierte Beschäftigte bekommt immer mindestens den Tarifsatz der neuen Entgeltgruppe, der am nächsten über seinem bisherigen Tarifsatz liegt. So ist gewährleistet, dass eine Höhergruppierung auch wirklich mehr Entgelt bedeutet. Erfolgt die Höhergruppierung nicht in die Endstufe und ist die Entgeltdifferenz geringer als 100 Euro, stellt eine Zulage sicher, dass der Einkommenszuwachs mindestens 100 Euro beträgt.

Auch in Sachen Vertretungszulagen gab es Fortschritte und die Mindestvertretungszeit für die Entgeltgruppen 7 bis 13 wurden halbiert: Dort greift die Vertretungszulage ab dem 1. September schon ab der dritten Woche. Üben Beschäftigte in diesen Entgeltgruppen vollwertig eine Tätigkeit aus, die einer höheren Entgeltgruppe zugeordnet ist, haben sie rückwirkend einen tariflichen Anspruch auf den Differenzbetrag zwischen ihrem Tarifentgelt und dem Tarifentgelt der höheren Entgeltgruppe.