Arbeit & Gesellschaft

Kompass

Der Druck wird extrem

Text Inken Hägermann – Illustration Eugen Schulz

Sparprogramme, Stellenstreichungen, Standort­frust: Droht Deutschland die Deindustrialisierung? Die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer und Michael Vassiliadis im Streitgespräch.

Podcast anhören

Die deutsche Volkswirtschaft und die Industrie lahmen aktuell – stärker als in anderen Ländern. Ist das nur ein Konjunkturknick oder sind wir am Beginn einer langen „Dümpelphase“, Frau Schnitzer?

Monika Schnitzer: Da würde ich erst mal Entwarnung geben: Tatsächlich erleben wir im Moment zwar eine leichte Rezession. Das ist aber angesichts der Energiekrise, durch die wir gerade gehen, wirklich nicht dramatisch, das hätte sehr viel schlimmer kommen können. Die Entwicklung ist außerdem dadurch bedingt, dass die EZB aufgrund der hohen Inflation die Zinsen angehoben hat. Das dämpft natürlich auch das Wirtschaftswachstum, in manchen Branchen mehr als in anderen. Deutschland ist zudem von der Energiekrise besonders betroffen, weil wir ein starker Industriestandort sind und wir viele energieintensive Produkte herstellen. Es ist also gar nicht verwunderlich, dass es uns aktuell hart trifft. Das ist aber kein Grund, in Panik zu verfallen.

Foto: Maya Claussen

Monika Schnitzer, geboren 1961, ist seit Oktober 2022 die Vorsitzende des Sach­ver­ständigenrates zur Begutacht­ung der gesamtwirt­schaft­lichen Entwicklung. Sie gehört den Wirtschaftsweisen seit April 2020 an. Die Professorin für komparative Wirtschaftsforschung an der Ludwig-­Maximilians-­Universität München studierte Wirtschaftswissenschaften in Köln und Bonn sowie an der London School of Economics. In ihrer Forschung be­schäf­tigt sie sich mit Wettbe­werbs­politik, Innovationsökonomie sowie multi­nationalen Unternehmen.

Wie sieht es denn direkt in den Betrieben aus, Michael?

Michael Vassiliadis: Wir erleben die Gleichzeitigkeit verschiedener Realitäten, was nicht unüblich ist. Auf der einen Seite bin ich bei Frau Schnitzer: Die Zahlen, die wir volkswirtschaftlich insgesamt sehen, und auch die Art und Weise, wie wir die Krise im vergangenen Jahr bewältigt haben mit Gaspreisbremse und vielen anderen Maßnahmen, hat gezeigt: Diese Wirtschaft und diese Gesellschaft sind handlungsfähig und stabil. Auch ich will Alarmismus vermeiden. Allerdings müssen wir auch und gerade bei so globalen Betrachtungen den Blick ins Detail lenken. Innerhalb der unterschiedlichen Industrien verzeichnen wir unterschiedliche Betroffenheiten, die auch logisch sind und mehrere Quellen haben.

Welche sind das?

Vassiliadis: Unsere Unternehmen stecken in einer Sandwichposition die Aufträge stocken und die Energiekosten sind hoch. Das setzt unsere Industrien extrem unter Druck. Und extrem heißt: existenziell. Deswegen ist die Sorge vor einer Deindustrialisierung in diesen Bereichen durchaus real. Für die gesamte Industrie und Volkswirtschaft hingegen ist der Begriff vielleicht ein wenig reißerisch. Außer der Pharmaindustrie vertreten wir bei der IGBCE vor allem energieintensive Branchen: Chemie, Glas, Keramik, Papier. Es gibt betriebswirtschaftlich in diesen Bereichen eine andere Realität als volkswirtschaftlich für die ­Gesamtheit.

Wir müssen nicht mehr selbst Ammoniak produzieren.

Monika Schnitzer,
Vorsitzende der Wirtschaftsweisen

Muss es uns Sorgen machen, dass gerade in den energieintensiven Industrien große Nöte herrschen?

Schnitzer: Das ist die entscheidende Frage: Was macht die Energiekrise, was machen die hohen Energiepreise mit unseren energieintensiven Industrien? Da möchte ich gern differenzieren. Energieintensiv sind ja nicht alle Teile dieser Industrien. Wenn wir auf die Chemie schauen, sind dort bestimmte Vorprodukte ganz besonders energieintensiv, andere Produkte sind das weniger stark. Wir werden in Zukunft darüber nachdenken müssen, ob wir alle Produkte – auch die besonders energieintensiven tatsächlich im eigenen Land herstellen wollen. Auch vor der Krise haben wir ja nicht gerade von extrem billiger Energie profitiert und hatte das Ausland deutlich niedrigere Energiepreise. Das hat aber in der Vergangenheit nicht zur Deindustrialisierung in Deutschland geführt.
Unsere Industrien konnten mit diesen Preisunterschieden durchaus umgehen. Wegen der Krise ist der Unterschied jetzt temporär dramatisch groß, der wird aber wieder etwas zurückgehen, wenn sich die Lage weiter stabilisiert hat. Ein großer Vorteil der Globalisierung ist, dass wir viele arbeitsintensive Vorprodukte aus Ländern importiert haben, in denen die Löhne deutlich niedriger waren. Von diesen Produktionsverlagerungen haben wir als Nation und Industrie profitiert, weil wir mit den günstigen Vorprodukten insgesamt wettbewerbsfähig mit den Endprodukten waren. Für mich sieht die Zukunft so aus, dass wir das mit den besonders energieintensiven Vorprodukten auch so umsetzen. Wir müssen nicht mehr selbst Ammoniak produzieren – auch wenn das in Deutschland erfunden worden ist.

Aber ist nicht eine heimische Grundstoffindustrie und -produktion wichtig für die Resilienz unserer Volkswirtschaft, für die gesamte industrielle Wertschöpfungskette innerhalb Deutschlands?

Schnitzer: Geopolitisch betrachtet ist es wichtig, nicht nur von einem Land abhängig zu sein – diversifizieren heißt das Zauberwort. Und wir sollten nur Vorprodukte von Ländern beziehen, von denen wir erwarten, dass sie verlässlich sind. In den Bereichen, in denen wir etwas recht günstig vor Ort produzieren können und die Transportkosten zu hoch sind, da werden wir das selbst machen. Das könnte ich mir etwa bei Teilen der Glasindustrie vorstellen.

Vassiliadis: Aus global-volkswirtschaftlicher Sicht mag es kein Weltuntergang sein, wenn wir die energieintensiven ersten Stufen verlieren. Aber: Das, was Deutschland erfolgreich gemacht hat, ist die starke Verzahnung der Branchen, etwa bei der Chemie- und der Autoindustrie. Darüber hinaus gilt gerade in der Chemie die Verbundlogik: Wenn beispielsweise Ineos in Köln die Produktion chemischer Grundstoffe einstellen würde, dann wäre automatisch die Weiterverarbeitung bei Lanxess und Covestro gefährdet, die aus den Grundstoffen innovative Chemieprodukte machen. Die Frage lautet also: Wie tief kann man in diese funktionierende Kreislaufwirtschaft schneiden, bevor das System kippt und das Wertschöpfungsmodell als Ganzes unrentabel wird? Die Frage von resilienter Versorgung können wir nicht nur makroökonomisch betrachten. Wir müssen auch die technologischen Zusammenhänge und die Abhängigkeiten in der Rohstoff- und Vorproduktversorgung in den Blick nehmen.

„Nicht nur makroökonomisch betrachten“: Michael Vassiliadis, Moderator Lars Ruzic und Monika Schnitzer.

Foto: Blitzfang

Schnitzer: Aus meiner Sicht wird ein Brückenstrompreis nicht unsere Strukturprobleme lösen. Selbst wenn wir es schaffen, unsere Erneuerbaren weiter auszubauen und damit die Energiepreise zu drücken, heißt das nicht automatisch, dass unsere Produktion dadurch billiger wird als an anderen Standorten. Ich denke, man sollte da lieber in Innovationen und zukunftsfähige Branchen investieren.

Vielen Dank für das Gespräch.

IGBCE Kompass: Den neuen Polit-Talk mit Michael Vassiliadis und Gast kannst du in voller Länge nicht nur in der digitalen Ausgabe dieses Magazins sehen und hören, sondern auch über die „Meine IGBCE“-App, im Web bei igbce.de sowie auf dem Youtube-Kanal deiner Gewerkschaft und auf allen gängigen Podcast-Plattformen. Dort lässt er sich auch leicht abonnieren.