Zukunft lernen
Elektromobilität, Automatisierung, Emissionsschutz – die Automobilindustrie durchlebt einen historischen Umbruch. Ganze Geschäftsfelder werden überflüssig, Tausende Jobs sind gefährdet. Am CITT bereitet Continental seine Beschäftigten auf den Wandel vor – zum Nutzen beider Seiten.
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Das Leben eines Reifens beginnt mit einer schwarzen, gummiartigen Masse. Sie begleitet Volkan Tas täglich bei seiner Arbeit. Der 41-Jährige mit grau meliertem Bart steht neben einer grün gestrichenen Maschine in Halle 44 im hessischen Korbach. Hier, im letzten deutschen Reifenwerk von Continental, findet der erste Schritt zur Herstellung von Vollgummireifen statt. Unkaputtbar kommen die Reifen an Gabelstaplern, Landmaschinen und in Riesenrädern zum Einsatz.
Tas zeigt in das Innere der Maschine, die bis unter die Decke der Halle reicht: Eine Walze zieht eine zähe, schwarze Kautschukmasse in eine lange, glatte Bahn. Wie bei einer Luftpolsterfolie zerdrückt sie eingeschlossene Blasen. Peng! Die Gummimasse gleitet aus der Maschine und wird Schicht für Schicht um eine Wickelstange gelegt. Ein Reifenrohling entsteht. In der Presse vulkanisiert und per Hand entgratet, wird daraus Schritt für Schritt ein mattschwarzer Reifen mit tiefem Profil.
Neben den Industriereifen stellen die 3.400 Mitarbeitenden in Korbach Auto-, Motorrad- und Fahrradreifen sowie Schläuche für Zapfsäulen und andere Industrieanwendungen her. Die Produktion läuft auf Hochtouren, dem Standort geht es gut: Bereits 2022 verkündetet das Unternehmen, rund fünf Millionen Euro in ein erweitertes Lager und eine neue Produktionslinie zu investieren.
Die Autobranche im Umbruch – Zu Besuch im Continental-Ausbildungszentrum CITT
Operation am offenen Herzen
Die Investitionen sind Teil der Neuausrichtung der deutschen Schlauchstandorte von Continental: Im Juni 2022 kündigte der Automobilzulieferer in einer Pressemitteilung an, dass „aufgrund des sich beschleunigenden Transformationsprozesses“ eine Anpassung des Geschäfts- und des Produktportfolios notwendig sei. Korbach profitiert davon, der Standort Oedelsheim soll schließen.
Ähnlich erging es dem Werk in Aachen. Dort wurde Ende vergangenen Jahres aufgrund von Überkapazitäten die Reifenproduktion eingestellt. 1.800 Arbeitsplätze waren davon betroffen.
Nicht nur die Schlauch- und Reifensparte, der gesamte Konzern befindet sich trotz steigender Umsatzzahlen im Umbruch. Was in Korbach und an anderen deutschen Standorten passiert, nennt der Konzernbetriebsratsvorsitzende Hasan Allak daher eine Operation am offenen Herzen. „In den Betrieben läuft die Produktion auf höchstem Niveau“, sagt der 52-Jährige. Doch draußen tobt die Transformation – Automatisierung, künstliche Intelligenz und der Wandel hin zur Elektromobilität. „Die Geschwindigkeit dieser Veränderungen ist immens. Das haben wir gar nicht in der Hand. Nichtsdestotrotz werden wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen, die Auswirkungen auf die Beschäftigten auf ein gut verträgliches Maß anzupassen.“ Konkret heißt das: Menschen in Beschäftigung halten, auch wenn es beim Auto mehr und mehr auf Reichweite und Vernetzung statt auf Hubraum und PS ankommt.
Für die Branche und insbesondere für die Zulieferer ist das eine Mammutaufgabe: Hunderttausende Arbeitsplätze stehen allein im Bereich der Verbrennermotoren auf der Kippe, weil viele Bauteile wie Zylinder und Zündkerzen nicht mehr gebraucht werden. Gleichzeitig fehlt es an qualifizierten Arbeitskräften. Um diesem Strukturwandel zu begegnen, setzt Continental auf ein in Form und Größe einzigartiges internes Weiterbildungsprogramm: das Continental Institut für Technologie und Transformation – kurz: CITT.
Qualifizierung und Flexibilisierung
Im Jahr 2018 berieten Arbeitgeber, Betriebsrat und die zwei im Unternehmen vertretenen Gewerkschaften IGBCE und IG Metall gemeinsam über die bevorstehende Transformation. Als Ergebnis entstand ein Maßnahmenpapier, welches das Thema interne Qualifizierung ins Zentrum rückt. Das Ziel: durch Aus- und Weiterbildungen die Menschen im Job halten und gleichzeitig den enormen Bedarf an neuen Fachkräften decken. Eine Win-win-Situation schaffen, so nennt es Sebastian Borchers. Und das CITT sollte der Hebel dafür werden.
Borchers leitet das Institut seit seinem Start 2019. „Von Corona und dem Ukrainekrieg war damals nichts zu ahnen. Niemand hat erwartet, dass die jetzigen Veränderungen so schnell kommen“, sagt er. „Wir sind die Herausforderungen früh strategisch angegangen und können unseren Beschäftigten nun über entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen Beschäftigungsperspektiven in der Transformation bieten.“
Unternehmen haben nicht viel Zeit.
Hasan Allak,
Konzernbetriebsratsvorsitzender
Ziele übertroffen
Bis Ende 2022 wurden bereits 8.500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer im CITT qualifiziert. Dazu zählen Seminare für Fachkräfte sowie Akademikerinnen und Akademiker rund um die Themen 3D-Druck, Data-Analytics, Software-Development und agile Methoden, aber auch Ausbildungen. Mehr als 300 Mitarbeitende konnten so bisher ihren Berufsabschluss einschließlich IHK-Zertifikat nachholen. Bis Ende des Jahres sollen es 400 sein.
„Die Ziele des CITT haben wir übertroffen und einen echten Leuchtturm gebaut“, sagt -Borchers. Besonders stolz sei er auf die Bestehensquote von 91 Prozent. „Dass jemand 20 bis 30 Jahre nach dem Berufseinstieg noch eine Ausbildung macht, ist nicht selbstverständlich.“
In Korbach, einem von zwölf CITT-Standorten in Deutschland, liegt die Erfolgsquote sogar bei 95 Prozent. Hier schließen jährlich etwa 20 Beschäftigte ihre Ausbildung zur Verfahrensmechanikerin oder zum Verfahrensmechaniker für Kunststoff- und Kautschuktechnik am CITT ab. Darunter sind nicht nur Kolleginnen und Kollegen aus Korbach, sondern auch aus Aachen und von anderen Standorten.
Auch Volkan Tas, der Mann in Halle 44, zählt zu den Absolventen. Nach einem abgebrochenem Bauingenieurstudium jobbte er bei einer Sicherheitsfirma. Über einen Freund erfährt er, dass Continental in Korbach Leute sucht. Das liegt zwar 45 Autominuten von seinem Zuhause in Baunatal-Rengershausen entfernt, doch die Bezahlung stimmt – besonders durch die Zulagen im Dreischichtbetrieb in einer rollenden Woche. Über eine Leiharbeitsfirma startet er 2013 als Heizer für Industriereifen. Zeitgleich tritt er in die IGBCE ein.
Tas macht seine Sache gut, so gut, dass er 2015 einen Festvertrag bei Continental erhält. Er steigt auf zum stellvertretenden Schichtleiter oder, wie er sagt, „zum Mädchen für alles“. Mitte 2020 beginnt er seine Ausbildung am CITT. Gehört hatte er davon über einen Ausbildungsbeauftragten im Unternehmen. „Ich wollte etwas für mich selbst machen“, sagt Tas. „Die Ausbildung kann mir keiner mehr nehmen.“ Er überlegt nun, einen Meister oder Techniker draufzusatteln.
Klotzen statt kleckern
IGBCE-Mitglied Christoph Friedrichs geht diesen Schritt bereits. Er bildet sich an einer Abendschule in Kassel zum Logistikmeister weiter. Die Ausbildung am CITT hat Friedrichs 2022 als einer der Jahrgangsbesten abgeschlossen. „Ich bin damals zu meinem Vorgesetzten gegangen. Der meinte: ‚Klar, mach die Ausbildung. Das ist nur von Vorteil‘“, sagt der Logistikmitarbeiter. Von der Zusage bis zum Start vergingen wenige Tage – verbunden mit einer Freistellung über zwei Jahre, vollem Tarifentgelt und der Zusage, dass er nach der Ausbildung wieder einen Job in der Logistik erhält. Wenn er will.
„Wir müssen klotzen statt kleckern, denn der Wandel passiert in einem Irrsinnstempo“, sagt Francesco Grioli, Mitglied des geschäftsführenden Hauptvorstands der IGBCE und Vorsitzender des CITT-Beirats. „Je früher die Qualifizierung der Mitarbeitenden beginnt, desto besser ist es. Und das ist kein Lernen auf Vorrat – das ist Qualifizierung auf Zukunft!“
Je früher die Qualifizierung beginnt, desto besser.
Francesco Grioli,
Mitglied im geschäftsführenden Hauptvorstand der IGBCE und Vorsitzender des CITT-Beirats
Damit der Übergang vom regulären Job in die Ausbildung schnell und reibungslos funktioniert, haben Betriebsrat, Gewerkschaften und die Unternehmensleitung eine Betriebsvereinbarung abgeschlossen. Sie setzt die Spielregeln für die Ausbildung am CITT fest. Finanzielle Unterstützung kommt vonseiten des Staates. Über das Qualifizierungschancengesetz bezuschusst er Weiterbildungsmaßnahmen, die Menschen fit für den Strukturwandel machen – unabhängig von Qualifikation, Alter und Betriebsgröße.
„Das CITT ist ein sehr gutes Beispiel, wie Unternehmen wegweisende Institutionen in Zusammenarbeit mit dem Staat und den Sozialpartnern aufbauen können. Das sollte nachahmen, wer kann“, sagt Grioli. Wichtigster Punkt seien dabei die Menschen. „Meine Erfahrung ist: Wenn ihnen Sicherheit im Wandel garantiert wird, dann können sie auch mit Offenheit und Neugier neue Wege gehen.“
In Korbach beugen sich in der Werkstatt des CITT 20 Männer über weiße Lochplatten. Wie an den übrigen elf Standorten befinden sich die Ausbildungsräume direkt auf dem Werkgelände. Das sorgt neben den Inhalten für eine praxisnahe Ausbildung.
Viele der Teilnehmenden sind grau meliert, alle tragen graue Poloshirts mit hellblauem CITT-Logo auf der Brust. Die Zwischenprüfungen stehen an. Zur Vorbereitung wird ein pneumatischer Schaltkreis gesteckt. Zwei Trainer, die aus dem Betrieb stammen, gehen umher und helfen, wo nötig. Stimmengewirr füllt die weiß getünchte Halle, immer wieder ist das Zischen der Druckluft zu hören. An der lang gezogenen Wand stehen blaue Spinde mit Schwarz-Weiß-Bildern. Sie zeigen Lehrgangssituationen. Darauf zu lesen ist „Freiheit“ und „Verbundenheit“. Absolvent Volkan Tas steht daneben und schaut auf die Teilnehmenden. „Die Zeit hier war sehr, sehr schön“, sagt er. „Die schönste, seitdem ich für Continental arbeite.“