Offenes Ohr und Heft in der Hand
Rund 400 Austrägerinnen und Austräger deutschlandweit verteilen die IGBCE Profil – von Hand und ganz persönlich. So halten sie engen Kontakt zu den Mitgliedern und wissen, was sie beschäftigt. Auf Tour mit Annelie Nießen und Rudolf Gasper im nordrhein-westfälischen Düren.
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Die Ausstattung von Rudolf Gasper, den hier alle Rudi nennen, ist markant: drei Fahrradtaschen und zwei Trinkflaschen, ein Helm mit Anstecknadeln, eine Sicherheitsweste und zwei reflektierende Hosenklammern. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert verteilt der 85-Jährige das IGBCE-Mitgliedermagazin. Seine Route ist insgesamt 40 Kilometer lang und führt ihn durch Arnoldsweiler, Birkesdorf und Düren. An den Haustüren der Mitglieder übergibt er das druckfrische Heft oder er wirft es in den Briefkasten. Für diese Ausgabe sind es gut 200 Exemplare. Wie viel er verteilt, schwankt leicht, je nach aktueller Mitgliederzahl. Diese hoch zu halten, das beschäftigt Rudi Gasper sehr.
Der ehemalige Papiermacher will dafür sorgen, dass niemand die Gewerkschaft verlässt: „Durch das Zeitungsaustragen unterstütze ich die Mitgliederbindung und -rückgewinnung, denn ich kann im persönlichen Kontakt Austritte verhindern.“ So bringt er seine Motivation auf den Punkt. Es sei wichtig, in engem Austausch zu bleiben, auch unter überzeugten Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern.
Wie zwei Mitglieder in Düren die Profil zustellen
„Manchmal hängt ein Zettelchen für mich am Briefkasten“, erzählt Gasper. Er solle sich melden oder einfach klingeln. In der Gaußstraße bei Werner Weidenfeld, seit 55 Jahren IGBCE-Mitglied, ist so eine vertraute Station. Heute steht die Haustür schon offen, als Gasper sein E‑Bike – den Motor hat er sich zum 80. Geburtstag gegönnt – abstellt. „Rudi, wie war es auf dem Schützenfest?“, fragt ihn der 83-jährige Weidenfeld zur Begrüßung. Die ehemaligen Kollegen haben einander viel zu erzählen. Sie landen nach kurzem Exkurs zur Gartenpflege bei der Geschichte von Feinpapieren. Weidenfeld zeigt Gasper ein mehr als hundert Jahre altes Wasserzeichen aus seinem Fundus. „Dat gibbet heute all nich mehr“, sagen beide immer wieder. Sie arbeiteten zeitweise gemeinsam im Werk Reflex in Düren. Dort wird noch produziert, das Werk in Bergisch Gladbach ist bereits seit Jahren geschlossen. Vor allem das Papier für die Reisepässe im Auftrag der Bundesdruckerei sei ein guter Auftrag für Düren gewesen. „Wir waren eine Perle der Papierindustrie.“
Mit 58 Jahren ging Gasper „mit goldenem Handschlag“ in den Vorruhestand, wie er erzählt, 1998 mit 60 dann in die Rente. Ein Jahr zuvor, 1997, fusionierten die IG Bergbau und Energie, die IG Chemie-Papier-Keramik und die Gewerkschaft Leder. Die IGBCE entstand. Wie gut diese Vereinigung ablief, beeindruckt Gasper bis heute. In seiner Ortsgruppe hatte er daran großen Anteil. Denn mit seiner Gewerkschaft ist Gasper von Beginn an verbunden. „Ich habe die Ochsentour gemacht“, sagt er, startete als Jugendsprecher, war jüngstes Mitglied im Betriebsrat, dann stellvertretender Vorsitzender. Innerhalb der IGBCE war er vom Bezirksvorstand bis hin zum Beirat in verschiedenen Kommissionen. Später leitete Gasper fast 25 Jahre lang die Seniorengruppe. Sie bietet Beratung, Reisen und Veranstaltungen. Titel der Treffen lauten zum Beispiel „Die Zukunft der Erinnerung beim früheren Älterwerden“ oder „Auch im Alter sicher leben: Vorschläge und Informationen der Polizei“.
Ortsgruppen verbinden Menschen
Die Dürener Seniorinnen und Senioren erfahren viel Unterstützung durch die Ortsgruppe unter Vorsitz von Ulrich Titz. „Ortsgruppen sind Gewerkschaften vor Ort“, sagt der 67-jährige Titz. Er kommt aus dem Bergbau – genau wie das Konzept der Ortsgruppen. In der IG Chemie-Papier-Keramik gab es an ihrer Stelle Vertrauensleute. Bei der Fusion wurde beides beibehalten. Heute machen deutschlandweit rund 1.100 Ortsgruppen Gewerkschaftsarbeit wohnortnah erlebbar. In Düren in der Nordeifel zwischen Aachen und Köln leben rund 93.000 Menschen, davon sind gut 1.800 IGBCE-Ortsgruppen-Mitglieder, unter ihnen etwa 800 Senioren und Seniorinnen.
Unsere Antwort gegen rechts: Gemeinschaft und erinnern.
Ulrich Titz,
IGBCE-Ortsgruppe Düren
„Wirklich aktiv sind hier derzeit etwa 200 Leute“, berichtet Titz. Wichtig ist ihnen soziales Engagement. Sie unterstützen Obdachlose und Geflüchtete. Zudem macht sich die Ortsgruppe stark gegen rechte Tendenzen. 2014 hat in Düren die rechtsextreme NPD – seit Juni 2023 umbenannt in „Heimat“ – das erste Mal für den Kreistag kandidiert. „Seitdem stellen wir uns dagegen“, sagt Titz. „Unser Weg ist klar: Gemeinschaft und erinnern.“ So hat die Ortsgruppe zum Beispiel eine Ausstellung zum Zwangsarbeiterlager des Dürener Stadtteils Arnoldsweiler initiiert. In diesem Herbst feiert sie ihr 70-jähriges Bestehen. „Früher hat man nicht nur Zeitungen an der Haustür verteilt, sondern auch Beiträge in bar eingesammelt. Man gab, was man hatte“, erzählt Titz. Heute sei Altersarmut ein Thema in der Beratung. Vor allem alleinstehende Frauen müssten ihre Rente oft mit Sozialleistungen aufstocken, denn in unteren Lohngruppen reiche sie trotz lebenslanger Vollzeitarbeit nicht.
Wissen, was bewegt
„Zu jeder Adresse kenne ich ein Gesicht“, sagt Annelie Nießen. Die 67-Jährige trägt wie ihr Kollege Gasper in Düren die Profil aus. Rund 250 Exemplare je Ausgabe kommen zunächst per Post zu ihr nach Hause. Den Paketboten kannte Nießen schon, als er noch ein Baby war. Daher hat er einen Schlüssel zu ihrer Wohnung, um die Kartons reinzustellen, wenn sie einmal nicht da ist. Das Verteilen macht Nießen zu Fuß binnen zwei Wochen. Sie ist dann jeden Tag unterwegs – mit Magazinen im Rucksack. Seit sie vor neun Jahren in Rente gegangen ist, liebt sie diese Aufgabe. „Das Wichtigste ist das Gespräch“, sagt Nießen. „Ich sehe nach, dass es allen gut geht.“ Am traurigsten sei, wenn sie feststelle, dass jemand verstorben ist. Dann helfe sie den Hinterbliebenen. Manche würden zum Beispiel gar nicht wissen, dass es im Todesfall Unterstützung von der IGBCE gibt. Sie begleite auch mal ältere Menschen nach Duisburg zur Berufsgenossenschaft. „Ich bin da, bei allen Anliegen“, sagt sie ganz selbstverständlich.
Oft rede man einfach. „Es dauert so lange, wie es dauert“, fügt Nießen hinzu. Dabei gebe es auch mal sensible Situationen. „Manchmal gehe ich nicht ins Haus, denn ich kenne die tratschenden Nachbarinnen und Nachbarn. In solchen Fällen setzen wir uns nach draußen. Dann können alle gucken.“ Nießen ist in Düren geboren, hat nie woanders gelebt. Dennoch fühlt sich als „halbe Kölnerin“, wie sie sagt, denn ihre Mutter stammt von dort. Auf ihrer Strecke ist sie mit den Menschen seit Jahren vertraut – und mit deren Hunden. In zwei Gärten verteilt sie Leckerli, ehe sie sich dem Briefkasten nähert. Manchmal wird sie selbst auf Kaffee und Kuchen eingeladen, wenn sie das Magazin bringt. „Ich liebe es, mit den Leuten zu reden, und gebe alle wichtigen Informationen weiter.“ Magazine zu verteilen, das bedeutet, im Austausch mit Gewerkschaftsmitgliedern vor Ort zu bleiben. Regelmäßige Gartenzaungespräche sorgen für sozialen Zusammenhalt.