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Noch Luft nach oben
BioNTech hat sich in der Corona-Krise zum deutschen Vorzeigekonzern gemausert. So sehr er in der Forschung führend sein mag, so hinkt er doch als Arbeitgeber den Branchenstandards oft noch hinterher.
BioNTech
Bis vor drei Jahren nur Pharma- oder Börsenprofis bekannt, hat sich BioNTech durch die Corona-Krise zum weltweit bekannten Star der deutschen Gründerszene entwickelt. Die Biopharmaceutical New Technologies, wie BioNTech ausgeschrieben heißt, hatte im Ringen um den besten Covid-Impfstoff nicht nur beim Tempo, sondern auch bei der Qualität an der Spitze gelegen. Der gemeinsam mit Pfizer vertriebene Impfstoff kommt heute auf gut 60 Prozent weltweiten Marktanteil. BioNTechs Milliardengewinne haben nicht zuletzt den Haushalt der Stadt Mainz saniert und das Bundesland Rheinland-Pfalz zum Nettozahler im Bundesfinanzausgleich gemacht. In den vergangenen beiden Jahren hat sich die Beschäftigtenzahl des von Uğur Şahin, Özlem Türeci und Christoph Huber gegründeten Unternehmens mehr als verdoppelt. Auf Basis der erstmals beim Covid-Impfstoff in Serienproduktion eingesetzten mRNA- und weiterer Technologien will BioNTech Immuntherapien für verschiedene Krebsarten und Infektionskrankheiten wie Grippe, Malaria oder Gürtelrose entwickeln.
Gründung 2008
Rechtsform SE, nicht mitbestimmt
Börsengang 2019 (Nasdaq)
Börsenwert 30 Mrd. Euro (März 2023)
Cash-Reserven 21 Mrd. Euro (Anfang 2023)
Impfstoffumsatz 17 Mrd. Euro (2022)
Beschäftigte 4.500 (Ende 2022)
Arbeitsumgebung
BioNTech hat durch die Corona-Krise einen gewaltigen Wachstumsschub erhalten, der Umsatz ist heute 200-mal so hoch wie vor Corona. Das Wachstum bei der Belegschaft verlief ebenfalls rasant. Allein im vergangenen Jahr wuchs die Belegschaft um 50 Prozent auf 4.500 Beschäftigte.
Das Problem: Die Professionalisierung des Managements hat mit dem Wachstum nicht mitgehalten. Viele Bereiche und Aufgabenfelder seien noch weitgehend ungeregelt, vieles laufe chaotisch und widersprüchlich, sagen Beteiligte. Beispiel: Noch vor wenigen Monaten hatte das Unternehmen Fachleute aus der ganzen Republik mit dem Versprechen angeworben, sie könnten komplett von zu Hause aus arbeiten. Es gibt Beschäftigte, die noch nicht einmal in der Mainzer Zentrale waren. Nun sollen einige plötzlich aber doch im Betrieb arbeiten.
Das Wachstum und die unzähligen neuen Projekte, die BioNTech angeschoben hat, führen in Teilen des Unternehmens zu einer Arbeitsverdichtung, die nicht systematisch gemanagt wird. Die Folge: Viele Beschäftigte arbeiten zu viel. In Mainz beispielsweise wird die Arbeitszeit erst seit gut einem Jahr überhaupt erfasst. Das hat zutage gebracht, dass für viele Beschäftigte dort der Achtstundentag eine Seltenheit ist und auch Verstöße gegen die Maximalarbeitszeit von zehn Stunden am Tag oder gegen die Ruhezeitvorschriften vorkommen. Jedenfalls, wenn das Ganze dokumentiert wird. Denn auch das gibt es zuhauf: ausstempeln und danach weiterarbeiten.
Betriebsklima
Größter Antreiber der Beschäftigten bei BioNTech ist wohl die intrinsische Motivation – erst recht seit Corona. Viele werden bei der Arbeit getragen von dem Grundgedanken, persönlich einen kleinen Teil zum Gesundheitsschutz der Menschheit beizutragen.
An der Spitze des Unternehmens steht ein Ehepaar, dass vielen in Forscherdrang und Arbeitsethos Vorbild ist – und das nicht erst seit dem Erhalt des Bundesverdienstkreuzes hofiert wird von Politik und Medien. Uğur Şahin und Özlem Türeci sind gleichzeitig unprätentiös und werden von allen im Unternehmen geduzt. So lobt sich denn auch das Unternehmen für seine „flachen Hierarchien“, seine „Duz-Kultur“ und dafür, dass es keinen Dresscode gebe – „es sei denn, wir arbeiten im Labor“. Start-up im Kittel: Das ist das Bild, dass das Unternehmen von sich zeichnet.
Das Problem: Start-up-Mentalität allein genügt längst nicht mehr für einen Milliardenkonzern mit Tausenden Beschäftigten. An nicht wenigen Stellen im Unternehmen gibt es Unmut über Unstrukturiertheit, mangelhafte oder gar komplett fehlende Führung und unzureichende Kommunikation innerhalb der Organisation. Am Anfang sei man noch begeistert, sagt ein Mitarbeiter, das verfliege jedoch in kürzester Zeit.
Mitbestimmung
Erst nach und nach haben die Beschäftigten ihre demokratischen Vertretungen bilden können. Bislang gibt es nur in Mainz, Idar-Oberstein, Marburg und Berlin Betriebsräte. In der Konzernzentrale wurde er erstmals erst 2019, elf Jahre nach Gründung des Unternehmens, gewählt. Derzeit vertreten 21 Betriebsratsmitglieder in der Zentrale die Interessen der Belegschaft. Doch schon im kommenden Jahr wird neu gewählt werden müssen – so schnell wächst der Standort.
Die Betriebsräte leisten echte Pionierarbeit. Ohne Tarifvertrag fehlt es an Ordnung und Struktur im Unternehmen, unzählige Details müssen über Betriebsvereinbarungen geregelt werden. Die Liste ist lang, entsprechend auch der Zeitbedarf. Beispiel: Erst jetzt, zum 1. April 2023, tritt eine Betriebsvereinbarung in Kraft, die die Schichtarbeit in Mainz im Detail regelt.
Eine Mitbestimmung der Beschäftigten im Aufsichtsrat hat das Unternehmen von Beginn an bekämpft. Es firmierte bereits 2018 um von einer deutschen Aktiengesellschaft (AG) in eine europäische SE (Societas Europaea), was möglich machte, den damals herrschenden Zustand eines Kontrollgremiums ohne Belegschaftsvertretung in die Zukunft fortzuschreiben. Seinerzeit hatte die AG keinen Betriebsrat, und eine Beteiligung der Beschäftigten jenseits dessen hielt man für entbehrlich, da man keine Beschäftigten im europäischen Ausland hatte. Entsprechende Einwendungen der IGBCE wurden vom Tisch gewischt.
Tarifbindung
Blickt man auf die drei großen Standorte des Konzerns, dann herrscht eine Zweiklassengesellschaft. In Marburg gelten die von der IGBCE ausgehandelten Chemie-Tarifverträge, in Mainz und Idar-Oberstein nicht. In Marburg arbeitet die Belegschaft 37,5 Stunden in der Woche, an den anderen Standorten 40 Stunden. In Marburg gibt es zusätzlich zum Bonus garantiertes Weihnachts- und Urlaubsgeld, an den anderen Standorten nicht. In Marburg werden Überstunden sauber dokumentiert und abgebummelt oder ausgezahlt, an den anderen Standorten ist das nicht die Regel.
Die Ursache liegt darin, dass BioNTech den Marburger Standort mit heute 700 Beschäftigten im Herbst 2020 von Novartis übernommen hat, um dort im großen Maßstab seinen Covid-Impfstoff zu produzieren. Damit holte er sich erstmals ein Werk mit tariflich Beschäftigten ins Haus. Mit Blick auf die anderen Standorte verweigert BioNTech bis heute Gesprächen mit der IGBCE über den Eintritt in die Tarifbindung.
Stattdessen gibt es eine Betriebsvereinbarung zur Entgelt- und Stellentitelstruktur im Unternehmen, die offensichtlich jedoch viele Freiheiten lässt: So gibt es Fälle, in denen neu Eingestellte höhere Gehälter für die gleiche Aufgabe und bei gleicher Qualifikation bekommen als Alteingesessene. Und über jede Gehaltsrunde muss eine neue Betriebsvereinbarung geschlossen werden. Aus Sicht der IGBCE steht das im Widerspruch zur verfassungsrechtlich garantierten Tarifautonomie.
Zukunftsfähigkeit
BioNTechs Corona-Impfstoff war gleichzeitig der Durchbruch für die mRNA-Technologie, die das körpereigene Immunsystem in die Lage versetzt, Viren oder auch Tumorzellen selbst zu bekämpfen – und das vergleichsweise schnell und hochindividuell. BioNTech will damit und mit anderen Technologien einmal erfolgreiche Immuntherapien für Krebs und Infektionskrankheiten wie Malaria entwickeln.
Derzeit forscht BioNTech an 19 Vakzinen gegen Krebs und mehr als zehn Impfstoffen gegen Infektionskrankheiten. Problem: Der weit überwiegende Teil befindet sich noch in einem sehr frühen Entwicklungs- und Erprobungsstadium, sodass der Erfolg dieser Entwicklungen noch in den Sternen steht. Das Unternehmen gibt sich optimistisch, investiert Milliarden am Firmensitz in Mainz, der auf 5.000 Beschäftigte wachsen soll, in die Produktion sogenannter Plasmide in Marburg, in eine Impfstoffherstellung in Ruanda oder ein Forschungs- und Entwicklungszentrum zur Krebstherapie in England.
Dennoch: Bislang ist der Covid-Impfstoff der einzige wirkliche Umsatzbringer des Konzerns. Und der ist in vielen Ländern bereits ausreichend verimpft worden, sodass die Zahl der verabreichten Impfdosen bereits stark sinkt und einige Länder ihre Bestellmengen verringern wollen. Gleichzeitig beschäftigt das Vakzin inzwischen diverse Gerichte – von zivilrechtlichen Klagen wegen angeblicher Impfschäden bis hin zu Patentklagen von Konkurrenten.
Das sagt BioNTech
Der Konzern hat die Anfragen von Profil bis Redaktionsschluss unbeantwortet gelassen und keine Stellung bezogen.
Unser Fazit
BioNTechs Forschungserfolge im Kampf gegen Corona können nicht hoch genug geschätzt werden, und auch die Ziele im Kampf gegen andere Infektionskrankheiten und Krebs sind aller Ehren wert. Doch so führend das Unternehmen in zentralen Immuntechnologien sein mag, so sehr hinkt es bei den Arbeitgeberqualitäten hinterher. BioNTech ist längst zu einem Großkonzern avanciert mit mehr als 20 Milliarden Euro auf der hohen Kante. Aber in der Personalpolitik leistet man sich bis heute ein Durcheinander bei Entgeltstrukturen und Arbeitszeitregelungen wie bei einem Start-up. Gleichzeitig wird die Arbeitsverdichtung schlecht gemanagt, fühlen sich Beschäftigte nicht mitgenommen. Tarifverträge, die das alles sauber regeln könnten, werden, wo immer es geht, ignoriert, genau wie die Mitbestimmung der Belegschaft im Aufsichtsrat. Kurz: In der Forschung Weltklasse, als Arbeitgeber bestenfalls zweite Liga.